Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Italiens Theater.

Italien bietet in seinen Theatern außer dem allgemeinen Interesse das
Belehrende, welches überhaupt den Verfall zu begleiten pflegt. Nicht daß man,
wie der Anatom, nur an Leichnamen sein Lehrmaterial zu finden brauche, aber
ein gewisses Studium der Krankheit führt doch am sichersten auf die Erkennt¬
niß der Geheimschcidcn, über welche der äußere Gesundheitsschein leicht täuscht.
Wir geben im Folgenden das Resultat einiger Beobachtungen, aus denen man
abnehmen mag, wie weit dieser Verfall geht.

Mit Ausnahme der Scala in Mailand und des Theaters S. Carlo in
Neapel, gibt es keine regelmäßig besetzten, ohne Unterbrechung geöffneten
Bühnen. Die meisten Theater leben und sterben mit dem Carneval. Gcschäftö-
städtc, wo Messen gehalten werden, sind um die Zeit dieser letztern durch wan¬
dernde Thespistruppen heimgesucht. Da fast alle Gesellschaften auf fort¬
währender Wanderschaft begriffen sind, so verbindet sich in Italien mit dieser
ihrer Nomadcneigenschaft nicht schon an sich der Begriff untergeordneter Befähi¬
gung. Wol aber ist die natürliche Folge des fortwährend wechselnden Publicums
die immer erneuerte Vorführung des einmal Eingeübten und die geringe Aus¬
wahl von Stücken, welche die jedesmalige Saison mit sich bringt. Besonders
tritt diese Dmftigkeit in der Oper hervor. Mau gibt drei, vier Opern, und
die unermüdlichen Hörer lassen sich nicht abhalten, zehn bis' zwanzigmal den
nämlichen Weisen zu lauschen. Ist eine Oper abgethan, so kommt eine andere
"n die Reihe und wird wieder fast ohne Unterbrechung gegeben, bis die nach¬
rückende sie verdrängt. Wir lasen kürzlich: in diesem Jahre habe man in
Italien seit Januar bis Mai 32 neue Opern gegeben, 20 weitere seien ange¬
meldet; 7 bis 8 nur hätten Fiasco gemacht. Von dieser statistischen Reichhaltigkeit
des Repertoirs merkt man an Ort und Stelle wenig. Verdi beherrscht daS Orchester,
und die Versuche Petrellaö, Paccinis, Cagnanis und andrer ihn zu entthronen,
sind bis jetzt erfolglos geblieben. Da aber die italienischen Opern meistens von
Kapellmeistern componirt werden, so ist es den Componisten nicht schwer, ihre
Werke auf die ihrer Obhut anvertraute Bühne zu bringen, ohne daß deshalb
die einmalige oder mehrmalige Aufführung sie schon als fürs Ganze mit in
Betracht kommend erscheinen ließe. Die Möglichkeit neuer Motive, neuer
Gattungen wird natürlich einem Componisten, der allabendlich vertusche Weisen


Grenzboten. IV. <8ö7. 31
Italiens Theater.

Italien bietet in seinen Theatern außer dem allgemeinen Interesse das
Belehrende, welches überhaupt den Verfall zu begleiten pflegt. Nicht daß man,
wie der Anatom, nur an Leichnamen sein Lehrmaterial zu finden brauche, aber
ein gewisses Studium der Krankheit führt doch am sichersten auf die Erkennt¬
niß der Geheimschcidcn, über welche der äußere Gesundheitsschein leicht täuscht.
Wir geben im Folgenden das Resultat einiger Beobachtungen, aus denen man
abnehmen mag, wie weit dieser Verfall geht.

Mit Ausnahme der Scala in Mailand und des Theaters S. Carlo in
Neapel, gibt es keine regelmäßig besetzten, ohne Unterbrechung geöffneten
Bühnen. Die meisten Theater leben und sterben mit dem Carneval. Gcschäftö-
städtc, wo Messen gehalten werden, sind um die Zeit dieser letztern durch wan¬
dernde Thespistruppen heimgesucht. Da fast alle Gesellschaften auf fort¬
währender Wanderschaft begriffen sind, so verbindet sich in Italien mit dieser
ihrer Nomadcneigenschaft nicht schon an sich der Begriff untergeordneter Befähi¬
gung. Wol aber ist die natürliche Folge des fortwährend wechselnden Publicums
die immer erneuerte Vorführung des einmal Eingeübten und die geringe Aus¬
wahl von Stücken, welche die jedesmalige Saison mit sich bringt. Besonders
tritt diese Dmftigkeit in der Oper hervor. Mau gibt drei, vier Opern, und
die unermüdlichen Hörer lassen sich nicht abhalten, zehn bis' zwanzigmal den
nämlichen Weisen zu lauschen. Ist eine Oper abgethan, so kommt eine andere
"n die Reihe und wird wieder fast ohne Unterbrechung gegeben, bis die nach¬
rückende sie verdrängt. Wir lasen kürzlich: in diesem Jahre habe man in
Italien seit Januar bis Mai 32 neue Opern gegeben, 20 weitere seien ange¬
meldet; 7 bis 8 nur hätten Fiasco gemacht. Von dieser statistischen Reichhaltigkeit
des Repertoirs merkt man an Ort und Stelle wenig. Verdi beherrscht daS Orchester,
und die Versuche Petrellaö, Paccinis, Cagnanis und andrer ihn zu entthronen,
sind bis jetzt erfolglos geblieben. Da aber die italienischen Opern meistens von
Kapellmeistern componirt werden, so ist es den Componisten nicht schwer, ihre
Werke auf die ihrer Obhut anvertraute Bühne zu bringen, ohne daß deshalb
die einmalige oder mehrmalige Aufführung sie schon als fürs Ganze mit in
Betracht kommend erscheinen ließe. Die Möglichkeit neuer Motive, neuer
Gattungen wird natürlich einem Componisten, der allabendlich vertusche Weisen


Grenzboten. IV. <8ö7. 31
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0249" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/104984"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Italiens Theater.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_722"> Italien bietet in seinen Theatern außer dem allgemeinen Interesse das<lb/>
Belehrende, welches überhaupt den Verfall zu begleiten pflegt. Nicht daß man,<lb/>
wie der Anatom, nur an Leichnamen sein Lehrmaterial zu finden brauche, aber<lb/>
ein gewisses Studium der Krankheit führt doch am sichersten auf die Erkennt¬<lb/>
niß der Geheimschcidcn, über welche der äußere Gesundheitsschein leicht täuscht.<lb/>
Wir geben im Folgenden das Resultat einiger Beobachtungen, aus denen man<lb/>
abnehmen mag, wie weit dieser Verfall geht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_723" next="#ID_724"> Mit Ausnahme der Scala in Mailand und des Theaters S. Carlo in<lb/>
Neapel, gibt es keine regelmäßig besetzten, ohne Unterbrechung geöffneten<lb/>
Bühnen. Die meisten Theater leben und sterben mit dem Carneval. Gcschäftö-<lb/>
städtc, wo Messen gehalten werden, sind um die Zeit dieser letztern durch wan¬<lb/>
dernde Thespistruppen heimgesucht. Da fast alle Gesellschaften auf fort¬<lb/>
währender Wanderschaft begriffen sind, so verbindet sich in Italien mit dieser<lb/>
ihrer Nomadcneigenschaft nicht schon an sich der Begriff untergeordneter Befähi¬<lb/>
gung. Wol aber ist die natürliche Folge des fortwährend wechselnden Publicums<lb/>
die immer erneuerte Vorführung des einmal Eingeübten und die geringe Aus¬<lb/>
wahl von Stücken, welche die jedesmalige Saison mit sich bringt. Besonders<lb/>
tritt diese Dmftigkeit in der Oper hervor. Mau gibt drei, vier Opern, und<lb/>
die unermüdlichen Hörer lassen sich nicht abhalten, zehn bis' zwanzigmal den<lb/>
nämlichen Weisen zu lauschen. Ist eine Oper abgethan, so kommt eine andere<lb/>
"n die Reihe und wird wieder fast ohne Unterbrechung gegeben, bis die nach¬<lb/>
rückende sie verdrängt. Wir lasen kürzlich: in diesem Jahre habe man in<lb/>
Italien seit Januar bis Mai 32 neue Opern gegeben, 20 weitere seien ange¬<lb/>
meldet; 7 bis 8 nur hätten Fiasco gemacht. Von dieser statistischen Reichhaltigkeit<lb/>
des Repertoirs merkt man an Ort und Stelle wenig. Verdi beherrscht daS Orchester,<lb/>
und die Versuche Petrellaö, Paccinis, Cagnanis und andrer ihn zu entthronen,<lb/>
sind bis jetzt erfolglos geblieben. Da aber die italienischen Opern meistens von<lb/>
Kapellmeistern componirt werden, so ist es den Componisten nicht schwer, ihre<lb/>
Werke auf die ihrer Obhut anvertraute Bühne zu bringen, ohne daß deshalb<lb/>
die einmalige oder mehrmalige Aufführung sie schon als fürs Ganze mit in<lb/>
Betracht kommend erscheinen ließe. Die Möglichkeit neuer Motive, neuer<lb/>
Gattungen wird natürlich einem Componisten, der allabendlich vertusche Weisen</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. IV. &lt;8ö7. 31</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0249] Italiens Theater. Italien bietet in seinen Theatern außer dem allgemeinen Interesse das Belehrende, welches überhaupt den Verfall zu begleiten pflegt. Nicht daß man, wie der Anatom, nur an Leichnamen sein Lehrmaterial zu finden brauche, aber ein gewisses Studium der Krankheit führt doch am sichersten auf die Erkennt¬ niß der Geheimschcidcn, über welche der äußere Gesundheitsschein leicht täuscht. Wir geben im Folgenden das Resultat einiger Beobachtungen, aus denen man abnehmen mag, wie weit dieser Verfall geht. Mit Ausnahme der Scala in Mailand und des Theaters S. Carlo in Neapel, gibt es keine regelmäßig besetzten, ohne Unterbrechung geöffneten Bühnen. Die meisten Theater leben und sterben mit dem Carneval. Gcschäftö- städtc, wo Messen gehalten werden, sind um die Zeit dieser letztern durch wan¬ dernde Thespistruppen heimgesucht. Da fast alle Gesellschaften auf fort¬ währender Wanderschaft begriffen sind, so verbindet sich in Italien mit dieser ihrer Nomadcneigenschaft nicht schon an sich der Begriff untergeordneter Befähi¬ gung. Wol aber ist die natürliche Folge des fortwährend wechselnden Publicums die immer erneuerte Vorführung des einmal Eingeübten und die geringe Aus¬ wahl von Stücken, welche die jedesmalige Saison mit sich bringt. Besonders tritt diese Dmftigkeit in der Oper hervor. Mau gibt drei, vier Opern, und die unermüdlichen Hörer lassen sich nicht abhalten, zehn bis' zwanzigmal den nämlichen Weisen zu lauschen. Ist eine Oper abgethan, so kommt eine andere "n die Reihe und wird wieder fast ohne Unterbrechung gegeben, bis die nach¬ rückende sie verdrängt. Wir lasen kürzlich: in diesem Jahre habe man in Italien seit Januar bis Mai 32 neue Opern gegeben, 20 weitere seien ange¬ meldet; 7 bis 8 nur hätten Fiasco gemacht. Von dieser statistischen Reichhaltigkeit des Repertoirs merkt man an Ort und Stelle wenig. Verdi beherrscht daS Orchester, und die Versuche Petrellaö, Paccinis, Cagnanis und andrer ihn zu entthronen, sind bis jetzt erfolglos geblieben. Da aber die italienischen Opern meistens von Kapellmeistern componirt werden, so ist es den Componisten nicht schwer, ihre Werke auf die ihrer Obhut anvertraute Bühne zu bringen, ohne daß deshalb die einmalige oder mehrmalige Aufführung sie schon als fürs Ganze mit in Betracht kommend erscheinen ließe. Die Möglichkeit neuer Motive, neuer Gattungen wird natürlich einem Componisten, der allabendlich vertusche Weisen Grenzboten. IV. <8ö7. 31

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/249
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/249>, abgerufen am 30.04.2024.