Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Otto Ludwig.
Thüringer Naturen. Charakter- und Sittenbilder in Erzählungen von
O. Ludwig. -Iter Band: die Hciterethei und ihr. Widerspiel. -- Frank¬
furt c>. M.. Meidinger. --
Zwischen Himmel und Erde. Erzählung von O. Ludwig -- Zweite ver¬
besserte Auflage. Frankfurt a. M., Meidinger. --

Hast du nicht gute Gesellschaft gesehn? es zeigt uns dein Büchlein
Fast nur Gaukler und Volk, ja was noch niedriger ist.
Gute Gesellschaft hab' ich gesehn, man nennt sie die gute,
Weil sie zum kleinsten.Gedicht keine Gelegenheit gibt.

Als der Dichter des Tasso in Venedig diese Zeilen schrieb, hatte man in
der guten Gesellschaft den Puder, die Reifröcke und die Schönpflästerchen noch
nicht abgelegt. Man parlirte französisch, und wenn es hinter den Coulissen
so frei zuging wie zu allen Zeiten, so mußte auf der offnen Bühne des
Lebens eine fest vorgeschriebene Convenienz gewahrt werden. In Goethes
Mund wollte dieser Ausspruch um so mehr sagen, da er in der- besten Gesellschaft
zu Hause war, in einem Kreise höchster Bildung deS Geistes-und des Herzens,
in einem Kreise, der im Grund den einzigen Fehler der Kleinstädterei hatte.
Wenn es zu allen Zeiten zum guten Ton gehört, in einer heiter, bequem und
glänzend eingerichteten Häuslichkeit die Tageöziinkereien der Politik bei Seite
zu lassen, so ist doch ein großer Unterschied, ob man durch vornehme Gelassen¬
heit bestimmt wird, oder durch die bittere Nothwendigkeit des Lebens. Die
gute Gesellschaft im Wilhelm Meister, in Weimar und Ferrara muß sich noth¬
gedrungen mit Kunst und Literatur und mit Projecten zur Beförderung des
Familienlebens beschäftigen, weil sie keinen andern .Inhalt hat. Und doch,
wer sich deS Lebens freuen will, hat gleich Wilhelm Meister nur die Wahl'
Zwischen der Aristokratie und den Vagabunden. Er muß sich entweder zur
Gesellschaft Lotharios, oder zu Philine und Mignon gesellen, und der Weg
von den letztern zu den venetianischen Lacerten und Bettinen ist nicht weit.
Der Sohn des frankfurter Vürgerthums hatte zu früh die Schattenseiten die¬
ser mittleren Schicht der Gesellschaft kennen gelernt, um auf sie eine poetische
Hoffnung zu setzen: bald war ihm der Pietismus in seinen widerwärtigsten


Grenzboten. IV. 1867.. 51
Otto Ludwig.
Thüringer Naturen. Charakter- und Sittenbilder in Erzählungen von
O. Ludwig. -Iter Band: die Hciterethei und ihr. Widerspiel. — Frank¬
furt c>. M.. Meidinger. —
Zwischen Himmel und Erde. Erzählung von O. Ludwig — Zweite ver¬
besserte Auflage. Frankfurt a. M., Meidinger. —

Hast du nicht gute Gesellschaft gesehn? es zeigt uns dein Büchlein
Fast nur Gaukler und Volk, ja was noch niedriger ist.
Gute Gesellschaft hab' ich gesehn, man nennt sie die gute,
Weil sie zum kleinsten.Gedicht keine Gelegenheit gibt.

Als der Dichter des Tasso in Venedig diese Zeilen schrieb, hatte man in
der guten Gesellschaft den Puder, die Reifröcke und die Schönpflästerchen noch
nicht abgelegt. Man parlirte französisch, und wenn es hinter den Coulissen
so frei zuging wie zu allen Zeiten, so mußte auf der offnen Bühne des
Lebens eine fest vorgeschriebene Convenienz gewahrt werden. In Goethes
Mund wollte dieser Ausspruch um so mehr sagen, da er in der- besten Gesellschaft
zu Hause war, in einem Kreise höchster Bildung deS Geistes-und des Herzens,
in einem Kreise, der im Grund den einzigen Fehler der Kleinstädterei hatte.
Wenn es zu allen Zeiten zum guten Ton gehört, in einer heiter, bequem und
glänzend eingerichteten Häuslichkeit die Tageöziinkereien der Politik bei Seite
zu lassen, so ist doch ein großer Unterschied, ob man durch vornehme Gelassen¬
heit bestimmt wird, oder durch die bittere Nothwendigkeit des Lebens. Die
gute Gesellschaft im Wilhelm Meister, in Weimar und Ferrara muß sich noth¬
gedrungen mit Kunst und Literatur und mit Projecten zur Beförderung des
Familienlebens beschäftigen, weil sie keinen andern .Inhalt hat. Und doch,
wer sich deS Lebens freuen will, hat gleich Wilhelm Meister nur die Wahl'
Zwischen der Aristokratie und den Vagabunden. Er muß sich entweder zur
Gesellschaft Lotharios, oder zu Philine und Mignon gesellen, und der Weg
von den letztern zu den venetianischen Lacerten und Bettinen ist nicht weit.
Der Sohn des frankfurter Vürgerthums hatte zu früh die Schattenseiten die¬
ser mittleren Schicht der Gesellschaft kennen gelernt, um auf sie eine poetische
Hoffnung zu setzen: bald war ihm der Pietismus in seinen widerwärtigsten


Grenzboten. IV. 1867.. 51
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0409" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/105144"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Otto Ludwig.</head><lb/>
          <list>
            <item> Thüringer Naturen. Charakter- und Sittenbilder in Erzählungen von<lb/>
O. Ludwig. -Iter Band: die Hciterethei und ihr. Widerspiel. &#x2014; Frank¬<lb/>
furt c&gt;. M.. Meidinger. &#x2014;</item>
            <item> Zwischen Himmel und Erde. Erzählung von O. Ludwig &#x2014; Zweite ver¬<lb/>
besserte Auflage. Frankfurt a. M., Meidinger. &#x2014;</item>
          </list><lb/>
          <quote type="epigraph"> Hast du nicht gute Gesellschaft gesehn? es zeigt uns dein Büchlein<lb/>
Fast nur Gaukler und Volk, ja was noch niedriger ist.<lb/>
Gute Gesellschaft hab' ich gesehn, man nennt sie die gute,<lb/>
Weil sie zum kleinsten.Gedicht keine Gelegenheit gibt.</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_1118" next="#ID_1119"> Als der Dichter des Tasso in Venedig diese Zeilen schrieb, hatte man in<lb/>
der guten Gesellschaft den Puder, die Reifröcke und die Schönpflästerchen noch<lb/>
nicht abgelegt. Man parlirte französisch, und wenn es hinter den Coulissen<lb/>
so frei zuging wie zu allen Zeiten, so mußte auf der offnen Bühne des<lb/>
Lebens eine fest vorgeschriebene Convenienz gewahrt werden. In Goethes<lb/>
Mund wollte dieser Ausspruch um so mehr sagen, da er in der- besten Gesellschaft<lb/>
zu Hause war, in einem Kreise höchster Bildung deS Geistes-und des Herzens,<lb/>
in einem Kreise, der im Grund den einzigen Fehler der Kleinstädterei hatte.<lb/>
Wenn es zu allen Zeiten zum guten Ton gehört, in einer heiter, bequem und<lb/>
glänzend eingerichteten Häuslichkeit die Tageöziinkereien der Politik bei Seite<lb/>
zu lassen, so ist doch ein großer Unterschied, ob man durch vornehme Gelassen¬<lb/>
heit bestimmt wird, oder durch die bittere Nothwendigkeit des Lebens. Die<lb/>
gute Gesellschaft im Wilhelm Meister, in Weimar und Ferrara muß sich noth¬<lb/>
gedrungen mit Kunst und Literatur und mit Projecten zur Beförderung des<lb/>
Familienlebens beschäftigen, weil sie keinen andern .Inhalt hat. Und doch,<lb/>
wer sich deS Lebens freuen will, hat gleich Wilhelm Meister nur die Wahl'<lb/>
Zwischen der Aristokratie und den Vagabunden. Er muß sich entweder zur<lb/>
Gesellschaft Lotharios, oder zu Philine und Mignon gesellen, und der Weg<lb/>
von den letztern zu den venetianischen Lacerten und Bettinen ist nicht weit.<lb/>
Der Sohn des frankfurter Vürgerthums hatte zu früh die Schattenseiten die¬<lb/>
ser mittleren Schicht der Gesellschaft kennen gelernt, um auf sie eine poetische<lb/>
Hoffnung zu setzen: bald war ihm der Pietismus in seinen widerwärtigsten</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. IV. 1867.. 51</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0409] Otto Ludwig. Thüringer Naturen. Charakter- und Sittenbilder in Erzählungen von O. Ludwig. -Iter Band: die Hciterethei und ihr. Widerspiel. — Frank¬ furt c>. M.. Meidinger. — Zwischen Himmel und Erde. Erzählung von O. Ludwig — Zweite ver¬ besserte Auflage. Frankfurt a. M., Meidinger. — Hast du nicht gute Gesellschaft gesehn? es zeigt uns dein Büchlein Fast nur Gaukler und Volk, ja was noch niedriger ist. Gute Gesellschaft hab' ich gesehn, man nennt sie die gute, Weil sie zum kleinsten.Gedicht keine Gelegenheit gibt. Als der Dichter des Tasso in Venedig diese Zeilen schrieb, hatte man in der guten Gesellschaft den Puder, die Reifröcke und die Schönpflästerchen noch nicht abgelegt. Man parlirte französisch, und wenn es hinter den Coulissen so frei zuging wie zu allen Zeiten, so mußte auf der offnen Bühne des Lebens eine fest vorgeschriebene Convenienz gewahrt werden. In Goethes Mund wollte dieser Ausspruch um so mehr sagen, da er in der- besten Gesellschaft zu Hause war, in einem Kreise höchster Bildung deS Geistes-und des Herzens, in einem Kreise, der im Grund den einzigen Fehler der Kleinstädterei hatte. Wenn es zu allen Zeiten zum guten Ton gehört, in einer heiter, bequem und glänzend eingerichteten Häuslichkeit die Tageöziinkereien der Politik bei Seite zu lassen, so ist doch ein großer Unterschied, ob man durch vornehme Gelassen¬ heit bestimmt wird, oder durch die bittere Nothwendigkeit des Lebens. Die gute Gesellschaft im Wilhelm Meister, in Weimar und Ferrara muß sich noth¬ gedrungen mit Kunst und Literatur und mit Projecten zur Beförderung des Familienlebens beschäftigen, weil sie keinen andern .Inhalt hat. Und doch, wer sich deS Lebens freuen will, hat gleich Wilhelm Meister nur die Wahl' Zwischen der Aristokratie und den Vagabunden. Er muß sich entweder zur Gesellschaft Lotharios, oder zu Philine und Mignon gesellen, und der Weg von den letztern zu den venetianischen Lacerten und Bettinen ist nicht weit. Der Sohn des frankfurter Vürgerthums hatte zu früh die Schattenseiten die¬ ser mittleren Schicht der Gesellschaft kennen gelernt, um auf sie eine poetische Hoffnung zu setzen: bald war ihm der Pietismus in seinen widerwärtigsten Grenzboten. IV. 1867.. 51

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/409
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/409>, abgerufen am 30.04.2024.