Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Sieg der Liberalen in Belgien.
i.

In den letzten sechs Monaten sahen wir im parlamentarischen Leben
Belgiens eine Krisis eintreten und sich zur Katastrophe entwickeln, welche die
Gemüther in einem bis dahin fast unerhörten Maße aufregte und durch die
eigenthümlichen Phänomene, welche sie begleiteten, auch in Deutschland die
Freunde wie die Gegner der constitutionellen Regierungsform vielfach sehr leb¬
haft beschäftigte. Diese Krisis hat jetzt ihr Ende erreicht, und es ist nun
Zeit an eine Darstellung ihres Verlaufs zu gehen, wobei sich zeigen wird,
ob wirklich durch die Wendung, welche die Dinge genommen haben, daS con-
stitutionelle Princip verletzt worden ist -- eine Frage, welche, von der besiegten
Partei in Belgien im bittern Tone bejaht, von der Reaction in Deutschland
ebenfalls bejaht und als Beweis für die Nothwendigkeit eines absoluten
Herrscherwillens im Staate benutzt, jedenfalls das Hauptinteresse bei jenen
Porgängen in sich schließt. ,

Das Schauspiel, welches Belgien in dieser Periode darbot, zerfällt in
zwei Acte. Ein Gesetzentwurf in Betreff der Gründung und Verwaltung
milder Stiftungen, eingebracht von einem Ministerium, welches im Rufe
stand in der Mehrzahl seiner Mitglieder stark zu den Tendenzen der klerikalen
Partei hinzuneigen, wurde, obwol er an sich unschuldig schien, Veranlassung
zu einem parlamentarischen Kampfe, dessen Hitze, indem sie sich durch die
Presse dem gesammten Volke mittheilte, zu der seltenen Erscheinung führte,
daß die Majorität der Nation sich gegen den Willen der von ihr selbst ge¬
wählten, mit Vertretung ihrer Wünsche betrauten Majorität des Parlaments
erklärte -- ein Conflict, der mit einer Revolution enden zu müssen schien und
wirklich mit einer Revolution geendet haben würde, wenn König Leopold
nicht mit der ihm eignen, wiederholt bewährten Weisheit zwischen die Parteien
getreten wäre. DaS Wohlthätigkeitsgesetz war nicht so unverfänglich, als
es lautete. Der Rechten war es bei seiner Vorlage hauptsächlich um die Ausdehnung
der dem Klerus bei der Verwaltung milder Stiftungen zuständigen Mitwirkung zu
thun. Die Linke wußte das, sie hegte aus Grund der Vergangenheit so wie
auf Grund des allgemein herrschenden Mißtrauens gegen die kirchlichen Be-


Grenzboteu IV. 1867. 56
Der Sieg der Liberalen in Belgien.
i.

In den letzten sechs Monaten sahen wir im parlamentarischen Leben
Belgiens eine Krisis eintreten und sich zur Katastrophe entwickeln, welche die
Gemüther in einem bis dahin fast unerhörten Maße aufregte und durch die
eigenthümlichen Phänomene, welche sie begleiteten, auch in Deutschland die
Freunde wie die Gegner der constitutionellen Regierungsform vielfach sehr leb¬
haft beschäftigte. Diese Krisis hat jetzt ihr Ende erreicht, und es ist nun
Zeit an eine Darstellung ihres Verlaufs zu gehen, wobei sich zeigen wird,
ob wirklich durch die Wendung, welche die Dinge genommen haben, daS con-
stitutionelle Princip verletzt worden ist — eine Frage, welche, von der besiegten
Partei in Belgien im bittern Tone bejaht, von der Reaction in Deutschland
ebenfalls bejaht und als Beweis für die Nothwendigkeit eines absoluten
Herrscherwillens im Staate benutzt, jedenfalls das Hauptinteresse bei jenen
Porgängen in sich schließt. ,

Das Schauspiel, welches Belgien in dieser Periode darbot, zerfällt in
zwei Acte. Ein Gesetzentwurf in Betreff der Gründung und Verwaltung
milder Stiftungen, eingebracht von einem Ministerium, welches im Rufe
stand in der Mehrzahl seiner Mitglieder stark zu den Tendenzen der klerikalen
Partei hinzuneigen, wurde, obwol er an sich unschuldig schien, Veranlassung
zu einem parlamentarischen Kampfe, dessen Hitze, indem sie sich durch die
Presse dem gesammten Volke mittheilte, zu der seltenen Erscheinung führte,
daß die Majorität der Nation sich gegen den Willen der von ihr selbst ge¬
wählten, mit Vertretung ihrer Wünsche betrauten Majorität des Parlaments
erklärte — ein Conflict, der mit einer Revolution enden zu müssen schien und
wirklich mit einer Revolution geendet haben würde, wenn König Leopold
nicht mit der ihm eignen, wiederholt bewährten Weisheit zwischen die Parteien
getreten wäre. DaS Wohlthätigkeitsgesetz war nicht so unverfänglich, als
es lautete. Der Rechten war es bei seiner Vorlage hauptsächlich um die Ausdehnung
der dem Klerus bei der Verwaltung milder Stiftungen zuständigen Mitwirkung zu
thun. Die Linke wußte das, sie hegte aus Grund der Vergangenheit so wie
auf Grund des allgemein herrschenden Mißtrauens gegen die kirchlichen Be-


Grenzboteu IV. 1867. 56
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0449" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/105184"/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der Sieg der Liberalen in Belgien.</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> i.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1221"> In den letzten sechs Monaten sahen wir im parlamentarischen Leben<lb/>
Belgiens eine Krisis eintreten und sich zur Katastrophe entwickeln, welche die<lb/>
Gemüther in einem bis dahin fast unerhörten Maße aufregte und durch die<lb/>
eigenthümlichen Phänomene, welche sie begleiteten, auch in Deutschland die<lb/>
Freunde wie die Gegner der constitutionellen Regierungsform vielfach sehr leb¬<lb/>
haft beschäftigte. Diese Krisis hat jetzt ihr Ende erreicht, und es ist nun<lb/>
Zeit an eine Darstellung ihres Verlaufs zu gehen, wobei sich zeigen wird,<lb/>
ob wirklich durch die Wendung, welche die Dinge genommen haben, daS con-<lb/>
stitutionelle Princip verletzt worden ist &#x2014; eine Frage, welche, von der besiegten<lb/>
Partei in Belgien im bittern Tone bejaht, von der Reaction in Deutschland<lb/>
ebenfalls bejaht und als Beweis für die Nothwendigkeit eines absoluten<lb/>
Herrscherwillens im Staate benutzt, jedenfalls das Hauptinteresse bei jenen<lb/>
Porgängen in sich schließt. ,</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1222" next="#ID_1223"> Das Schauspiel, welches Belgien in dieser Periode darbot, zerfällt in<lb/>
zwei Acte. Ein Gesetzentwurf in Betreff der Gründung und Verwaltung<lb/>
milder Stiftungen, eingebracht von einem Ministerium, welches im Rufe<lb/>
stand in der Mehrzahl seiner Mitglieder stark zu den Tendenzen der klerikalen<lb/>
Partei hinzuneigen, wurde, obwol er an sich unschuldig schien, Veranlassung<lb/>
zu einem parlamentarischen Kampfe, dessen Hitze, indem sie sich durch die<lb/>
Presse dem gesammten Volke mittheilte, zu der seltenen Erscheinung führte,<lb/>
daß die Majorität der Nation sich gegen den Willen der von ihr selbst ge¬<lb/>
wählten, mit Vertretung ihrer Wünsche betrauten Majorität des Parlaments<lb/>
erklärte &#x2014; ein Conflict, der mit einer Revolution enden zu müssen schien und<lb/>
wirklich mit einer Revolution geendet haben würde, wenn König Leopold<lb/>
nicht mit der ihm eignen, wiederholt bewährten Weisheit zwischen die Parteien<lb/>
getreten wäre. DaS Wohlthätigkeitsgesetz war nicht so unverfänglich, als<lb/>
es lautete. Der Rechten war es bei seiner Vorlage hauptsächlich um die Ausdehnung<lb/>
der dem Klerus bei der Verwaltung milder Stiftungen zuständigen Mitwirkung zu<lb/>
thun. Die Linke wußte das, sie hegte aus Grund der Vergangenheit so wie<lb/>
auf Grund des allgemein herrschenden Mißtrauens gegen die kirchlichen Be-</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboteu IV. 1867. 56</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0449] Der Sieg der Liberalen in Belgien. i. In den letzten sechs Monaten sahen wir im parlamentarischen Leben Belgiens eine Krisis eintreten und sich zur Katastrophe entwickeln, welche die Gemüther in einem bis dahin fast unerhörten Maße aufregte und durch die eigenthümlichen Phänomene, welche sie begleiteten, auch in Deutschland die Freunde wie die Gegner der constitutionellen Regierungsform vielfach sehr leb¬ haft beschäftigte. Diese Krisis hat jetzt ihr Ende erreicht, und es ist nun Zeit an eine Darstellung ihres Verlaufs zu gehen, wobei sich zeigen wird, ob wirklich durch die Wendung, welche die Dinge genommen haben, daS con- stitutionelle Princip verletzt worden ist — eine Frage, welche, von der besiegten Partei in Belgien im bittern Tone bejaht, von der Reaction in Deutschland ebenfalls bejaht und als Beweis für die Nothwendigkeit eines absoluten Herrscherwillens im Staate benutzt, jedenfalls das Hauptinteresse bei jenen Porgängen in sich schließt. , Das Schauspiel, welches Belgien in dieser Periode darbot, zerfällt in zwei Acte. Ein Gesetzentwurf in Betreff der Gründung und Verwaltung milder Stiftungen, eingebracht von einem Ministerium, welches im Rufe stand in der Mehrzahl seiner Mitglieder stark zu den Tendenzen der klerikalen Partei hinzuneigen, wurde, obwol er an sich unschuldig schien, Veranlassung zu einem parlamentarischen Kampfe, dessen Hitze, indem sie sich durch die Presse dem gesammten Volke mittheilte, zu der seltenen Erscheinung führte, daß die Majorität der Nation sich gegen den Willen der von ihr selbst ge¬ wählten, mit Vertretung ihrer Wünsche betrauten Majorität des Parlaments erklärte — ein Conflict, der mit einer Revolution enden zu müssen schien und wirklich mit einer Revolution geendet haben würde, wenn König Leopold nicht mit der ihm eignen, wiederholt bewährten Weisheit zwischen die Parteien getreten wäre. DaS Wohlthätigkeitsgesetz war nicht so unverfänglich, als es lautete. Der Rechten war es bei seiner Vorlage hauptsächlich um die Ausdehnung der dem Klerus bei der Verwaltung milder Stiftungen zuständigen Mitwirkung zu thun. Die Linke wußte das, sie hegte aus Grund der Vergangenheit so wie auf Grund des allgemein herrschenden Mißtrauens gegen die kirchlichen Be- Grenzboteu IV. 1867. 56

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/449
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 16, 1857, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341586_104734/449>, abgerufen am 30.04.2024.