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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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Englands Verfassung und kontinentale Stimmungen.

Die Geschichte der auf dem europäischen Kontinent über England herr¬
schenden Ansichten spiegelt in einer äußerst merkwürdigen Weise die vorherr¬
schenden socialen und politischen Strömungen des Continents selbst ab. Eng¬
lands innere Entwicklung ist eben einen von der des Festlands so sehr, ab¬
weichenden Weg gegangen, daß schon seit länger als einem Jahrhundert das Ver¬
ständniß der gegenseitigen Zustände erst durch Studium erworben werden muß.
Daß man aber in England weit weniger den Drang nach einem Verständniß
continentaler Zustände als umgekehrt empfunden hat, liegt theils in der ganzen
Durcharbeitung der englischen Verhältnisse, die von jeher den Typus der Ab¬
geschlossenheit an sich trugen, theils aber auch an dem Umstand, daß die
großen revolutionären Bewegungen des Continents ein Experimentiren mit
Verfassungen und ein Erforschen und Vergleichen mit der Fremde in einer
Weise nahe brachten, wie das in England gar nicht der Fall sein konnte.
Allerdings haben mächtige Einwirkungen des Continents auf die innere Ent¬
wicklung Englands stattgefunden, aber sie waren die Ausnahme und geschahen
unter allen Umständen weniger bewußt, als im andern Falle.

Durch solche Beziehungen erlangt der merkwürdige Wechsel continentaler
Stimmungen über England und die Auffassungen englischen Verfassungs- und
Rechtslebens eine so hohe Bedeutung. Denn was wir in unsern Tagen er¬
leben, daß England von den Einen als der Musterstaat hoch erhoben, von
den Andern als das Urbild der Unvernunft geschmäht und gezerrt wird, das
ist eine Erscheinung, die schon länger als ein Jahrhundert vorkommt, jedesmal
aber in neuer Weise. Den meisten unsrer Vorfahren zu Anfang des vorigen
Jahrhunderts waren die Engländer ein ebenso gottloses, ungezügeltes und
revolutionirendes Volk, wie am Ende desselben Jahrhunderts deren Enkeln
die Franzosen. Hatte doch England einen König enthauptet, einen zweiten
verjagt und war der zuerst am französischen Hofe, nachher in Rom weilende
Prätendent aus dem englischen Thron eine den Zeitgenossen noch neue und
darum englische Zustände noch stärker charakterisirende Erscheinung. Nach dem
Tode der Königin Anna bedürfte es für den ersten Georg vielen Zuredens,
um. ihn zur Annahme von Thron und Negierung eines so unruhigen Landes


Grenzboten III. 13S3. - 11
Englands Verfassung und kontinentale Stimmungen.

Die Geschichte der auf dem europäischen Kontinent über England herr¬
schenden Ansichten spiegelt in einer äußerst merkwürdigen Weise die vorherr¬
schenden socialen und politischen Strömungen des Continents selbst ab. Eng¬
lands innere Entwicklung ist eben einen von der des Festlands so sehr, ab¬
weichenden Weg gegangen, daß schon seit länger als einem Jahrhundert das Ver¬
ständniß der gegenseitigen Zustände erst durch Studium erworben werden muß.
Daß man aber in England weit weniger den Drang nach einem Verständniß
continentaler Zustände als umgekehrt empfunden hat, liegt theils in der ganzen
Durcharbeitung der englischen Verhältnisse, die von jeher den Typus der Ab¬
geschlossenheit an sich trugen, theils aber auch an dem Umstand, daß die
großen revolutionären Bewegungen des Continents ein Experimentiren mit
Verfassungen und ein Erforschen und Vergleichen mit der Fremde in einer
Weise nahe brachten, wie das in England gar nicht der Fall sein konnte.
Allerdings haben mächtige Einwirkungen des Continents auf die innere Ent¬
wicklung Englands stattgefunden, aber sie waren die Ausnahme und geschahen
unter allen Umständen weniger bewußt, als im andern Falle.

Durch solche Beziehungen erlangt der merkwürdige Wechsel continentaler
Stimmungen über England und die Auffassungen englischen Verfassungs- und
Rechtslebens eine so hohe Bedeutung. Denn was wir in unsern Tagen er¬
leben, daß England von den Einen als der Musterstaat hoch erhoben, von
den Andern als das Urbild der Unvernunft geschmäht und gezerrt wird, das
ist eine Erscheinung, die schon länger als ein Jahrhundert vorkommt, jedesmal
aber in neuer Weise. Den meisten unsrer Vorfahren zu Anfang des vorigen
Jahrhunderts waren die Engländer ein ebenso gottloses, ungezügeltes und
revolutionirendes Volk, wie am Ende desselben Jahrhunderts deren Enkeln
die Franzosen. Hatte doch England einen König enthauptet, einen zweiten
verjagt und war der zuerst am französischen Hofe, nachher in Rom weilende
Prätendent aus dem englischen Thron eine den Zeitgenossen noch neue und
darum englische Zustände noch stärker charakterisirende Erscheinung. Nach dem
Tode der Königin Anna bedürfte es für den ersten Georg vielen Zuredens,
um. ihn zur Annahme von Thron und Negierung eines so unruhigen Landes


Grenzboten III. 13S3. - 11
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[0089] Englands Verfassung und kontinentale Stimmungen. Die Geschichte der auf dem europäischen Kontinent über England herr¬ schenden Ansichten spiegelt in einer äußerst merkwürdigen Weise die vorherr¬ schenden socialen und politischen Strömungen des Continents selbst ab. Eng¬ lands innere Entwicklung ist eben einen von der des Festlands so sehr, ab¬ weichenden Weg gegangen, daß schon seit länger als einem Jahrhundert das Ver¬ ständniß der gegenseitigen Zustände erst durch Studium erworben werden muß. Daß man aber in England weit weniger den Drang nach einem Verständniß continentaler Zustände als umgekehrt empfunden hat, liegt theils in der ganzen Durcharbeitung der englischen Verhältnisse, die von jeher den Typus der Ab¬ geschlossenheit an sich trugen, theils aber auch an dem Umstand, daß die großen revolutionären Bewegungen des Continents ein Experimentiren mit Verfassungen und ein Erforschen und Vergleichen mit der Fremde in einer Weise nahe brachten, wie das in England gar nicht der Fall sein konnte. Allerdings haben mächtige Einwirkungen des Continents auf die innere Ent¬ wicklung Englands stattgefunden, aber sie waren die Ausnahme und geschahen unter allen Umständen weniger bewußt, als im andern Falle. Durch solche Beziehungen erlangt der merkwürdige Wechsel continentaler Stimmungen über England und die Auffassungen englischen Verfassungs- und Rechtslebens eine so hohe Bedeutung. Denn was wir in unsern Tagen er¬ leben, daß England von den Einen als der Musterstaat hoch erhoben, von den Andern als das Urbild der Unvernunft geschmäht und gezerrt wird, das ist eine Erscheinung, die schon länger als ein Jahrhundert vorkommt, jedesmal aber in neuer Weise. Den meisten unsrer Vorfahren zu Anfang des vorigen Jahrhunderts waren die Engländer ein ebenso gottloses, ungezügeltes und revolutionirendes Volk, wie am Ende desselben Jahrhunderts deren Enkeln die Franzosen. Hatte doch England einen König enthauptet, einen zweiten verjagt und war der zuerst am französischen Hofe, nachher in Rom weilende Prätendent aus dem englischen Thron eine den Zeitgenossen noch neue und darum englische Zustände noch stärker charakterisirende Erscheinung. Nach dem Tode der Königin Anna bedürfte es für den ersten Georg vielen Zuredens, um. ihn zur Annahme von Thron und Negierung eines so unruhigen Landes Grenzboten III. 13S3. - 11

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/89>, abgerufen am 06.05.2024.