Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

hat, statt wie jene Menschen des abstracten Gedankens sie zu verstoßen, sie
wieder vergeistigt. Daher erklärt sich die auffallende Erscheinung, daß die
moderne Kunst im Gegensatz zur antiken mit der Ausbildung des Kopfes und
der Gesichtszüge, dem Sitz der Gedanken und dem Spiegel der Seele, an¬
hebt, während bei den älteren Gebilden der griechischen Kunst der Körper fast
vollkommen entwickelt ist. die Gesichtszüge dagegen noch starr und leblos sind.
Nur hätten unsere Kunsthistoriker nicht gänzlich vergessen und übersehen sollen,
daß die antike Kunst von unten nach oben abgestorben ist. Ein Blick in die
letzten Tafeln von Bardolph ?eint. ant. hätte sie davon zur Genüge über¬
zeugen können. Auch das war eine Folge jener Zeitrichtung, die vom Sinn¬
lichen, dem Körper, sich ab und dem Geistigen sich zukehrte. Die Hauptver¬
treterin jener Richtung wurde schließlich die christliche Religion, welche die
Erbschaft der antiken Welt antrat. Insofern ist die Religion auch in der mo¬
dernen Zeit die Mutter der Künste geworden.

Aber so gut ein Kind aus dem Sckwß der Mutter in das bewegte Leben
hinaustreten muß, wenn es kein schwächliches Muttersöhnchen bleiben, sondern
ein Mann werden soll im vollen Sinne des Wortes, so muß auch die Kunst
mit der Zeit aus dem Schoß der Religion in das bewegte Leben und Treiben
der Welt hinaus, muß jenen wunderbaren Bund mit der Sinnlichkeit ein¬
gehen, auf dem im menschlichen Leben alle Fortpflanzung beruht. Narren
aber mögen mit der Vorsehung grollen, daß sie grade aus diesem süßen Rausch
die Keime neuen Lebens hervorsprießen läßt, deren Zeitigung sie alsdann
wieder höheren und geistigeren Interessen anvertraut.


Wilhelm Weingärtner.


Der 8. Februar 1849 in Florenz.

Bilder italienischen Landes und Lebens. Beiträge zur Physiognomik Italiens
und seiner Bewohner von Otto Spever. 2. Bd.. Berlin, Mittler und
Sohn. --

Der zweite Band dieses reizend geschriebenen Buchs enthält die Bilder
aus Rom. Neapel und Sicilien; durchweg in den frischesten Farben und auf
ernsten Studien beruhend. Als Anhang ist eine Skizze der italienischen Re¬
volution von 1849 gegeben, von der wir hier die wesentlichsten Züge mit-


53*

hat, statt wie jene Menschen des abstracten Gedankens sie zu verstoßen, sie
wieder vergeistigt. Daher erklärt sich die auffallende Erscheinung, daß die
moderne Kunst im Gegensatz zur antiken mit der Ausbildung des Kopfes und
der Gesichtszüge, dem Sitz der Gedanken und dem Spiegel der Seele, an¬
hebt, während bei den älteren Gebilden der griechischen Kunst der Körper fast
vollkommen entwickelt ist. die Gesichtszüge dagegen noch starr und leblos sind.
Nur hätten unsere Kunsthistoriker nicht gänzlich vergessen und übersehen sollen,
daß die antike Kunst von unten nach oben abgestorben ist. Ein Blick in die
letzten Tafeln von Bardolph ?eint. ant. hätte sie davon zur Genüge über¬
zeugen können. Auch das war eine Folge jener Zeitrichtung, die vom Sinn¬
lichen, dem Körper, sich ab und dem Geistigen sich zukehrte. Die Hauptver¬
treterin jener Richtung wurde schließlich die christliche Religion, welche die
Erbschaft der antiken Welt antrat. Insofern ist die Religion auch in der mo¬
dernen Zeit die Mutter der Künste geworden.

Aber so gut ein Kind aus dem Sckwß der Mutter in das bewegte Leben
hinaustreten muß, wenn es kein schwächliches Muttersöhnchen bleiben, sondern
ein Mann werden soll im vollen Sinne des Wortes, so muß auch die Kunst
mit der Zeit aus dem Schoß der Religion in das bewegte Leben und Treiben
der Welt hinaus, muß jenen wunderbaren Bund mit der Sinnlichkeit ein¬
gehen, auf dem im menschlichen Leben alle Fortpflanzung beruht. Narren
aber mögen mit der Vorsehung grollen, daß sie grade aus diesem süßen Rausch
die Keime neuen Lebens hervorsprießen läßt, deren Zeitigung sie alsdann
wieder höheren und geistigeren Interessen anvertraut.


Wilhelm Weingärtner.


Der 8. Februar 1849 in Florenz.

Bilder italienischen Landes und Lebens. Beiträge zur Physiognomik Italiens
und seiner Bewohner von Otto Spever. 2. Bd.. Berlin, Mittler und
Sohn. —

Der zweite Band dieses reizend geschriebenen Buchs enthält die Bilder
aus Rom. Neapel und Sicilien; durchweg in den frischesten Farben und auf
ernsten Studien beruhend. Als Anhang ist eine Skizze der italienischen Re¬
volution von 1849 gegeben, von der wir hier die wesentlichsten Züge mit-


53*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0429" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/107476"/>
          <p xml:id="ID_1280" prev="#ID_1279"> hat, statt wie jene Menschen des abstracten Gedankens sie zu verstoßen, sie<lb/>
wieder vergeistigt. Daher erklärt sich die auffallende Erscheinung, daß die<lb/>
moderne Kunst im Gegensatz zur antiken mit der Ausbildung des Kopfes und<lb/>
der Gesichtszüge, dem Sitz der Gedanken und dem Spiegel der Seele, an¬<lb/>
hebt, während bei den älteren Gebilden der griechischen Kunst der Körper fast<lb/>
vollkommen entwickelt ist. die Gesichtszüge dagegen noch starr und leblos sind.<lb/>
Nur hätten unsere Kunsthistoriker nicht gänzlich vergessen und übersehen sollen,<lb/>
daß die antike Kunst von unten nach oben abgestorben ist. Ein Blick in die<lb/>
letzten Tafeln von Bardolph ?eint. ant. hätte sie davon zur Genüge über¬<lb/>
zeugen können. Auch das war eine Folge jener Zeitrichtung, die vom Sinn¬<lb/>
lichen, dem Körper, sich ab und dem Geistigen sich zukehrte. Die Hauptver¬<lb/>
treterin jener Richtung wurde schließlich die christliche Religion, welche die<lb/>
Erbschaft der antiken Welt antrat. Insofern ist die Religion auch in der mo¬<lb/>
dernen Zeit die Mutter der Künste geworden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1281"> Aber so gut ein Kind aus dem Sckwß der Mutter in das bewegte Leben<lb/>
hinaustreten muß, wenn es kein schwächliches Muttersöhnchen bleiben, sondern<lb/>
ein Mann werden soll im vollen Sinne des Wortes, so muß auch die Kunst<lb/>
mit der Zeit aus dem Schoß der Religion in das bewegte Leben und Treiben<lb/>
der Welt hinaus, muß jenen wunderbaren Bund mit der Sinnlichkeit ein¬<lb/>
gehen, auf dem im menschlichen Leben alle Fortpflanzung beruht. Narren<lb/>
aber mögen mit der Vorsehung grollen, daß sie grade aus diesem süßen Rausch<lb/>
die Keime neuen Lebens hervorsprießen läßt, deren Zeitigung sie alsdann<lb/>
wieder höheren und geistigeren Interessen anvertraut.</p><lb/>
          <note type="byline"> Wilhelm Weingärtner.</note><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der 8. Februar 1849 in Florenz.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1282"> Bilder italienischen Landes und Lebens. Beiträge zur Physiognomik Italiens<lb/>
und seiner Bewohner von Otto Spever. 2. Bd.. Berlin, Mittler und<lb/>
Sohn. &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1283" next="#ID_1284"> Der zweite Band dieses reizend geschriebenen Buchs enthält die Bilder<lb/>
aus Rom. Neapel und Sicilien; durchweg in den frischesten Farben und auf<lb/>
ernsten Studien beruhend. Als Anhang ist eine Skizze der italienischen Re¬<lb/>
volution von 1849 gegeben, von der wir hier die wesentlichsten Züge mit-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 53*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0429] hat, statt wie jene Menschen des abstracten Gedankens sie zu verstoßen, sie wieder vergeistigt. Daher erklärt sich die auffallende Erscheinung, daß die moderne Kunst im Gegensatz zur antiken mit der Ausbildung des Kopfes und der Gesichtszüge, dem Sitz der Gedanken und dem Spiegel der Seele, an¬ hebt, während bei den älteren Gebilden der griechischen Kunst der Körper fast vollkommen entwickelt ist. die Gesichtszüge dagegen noch starr und leblos sind. Nur hätten unsere Kunsthistoriker nicht gänzlich vergessen und übersehen sollen, daß die antike Kunst von unten nach oben abgestorben ist. Ein Blick in die letzten Tafeln von Bardolph ?eint. ant. hätte sie davon zur Genüge über¬ zeugen können. Auch das war eine Folge jener Zeitrichtung, die vom Sinn¬ lichen, dem Körper, sich ab und dem Geistigen sich zukehrte. Die Hauptver¬ treterin jener Richtung wurde schließlich die christliche Religion, welche die Erbschaft der antiken Welt antrat. Insofern ist die Religion auch in der mo¬ dernen Zeit die Mutter der Künste geworden. Aber so gut ein Kind aus dem Sckwß der Mutter in das bewegte Leben hinaustreten muß, wenn es kein schwächliches Muttersöhnchen bleiben, sondern ein Mann werden soll im vollen Sinne des Wortes, so muß auch die Kunst mit der Zeit aus dem Schoß der Religion in das bewegte Leben und Treiben der Welt hinaus, muß jenen wunderbaren Bund mit der Sinnlichkeit ein¬ gehen, auf dem im menschlichen Leben alle Fortpflanzung beruht. Narren aber mögen mit der Vorsehung grollen, daß sie grade aus diesem süßen Rausch die Keime neuen Lebens hervorsprießen läßt, deren Zeitigung sie alsdann wieder höheren und geistigeren Interessen anvertraut. Wilhelm Weingärtner. Der 8. Februar 1849 in Florenz. Bilder italienischen Landes und Lebens. Beiträge zur Physiognomik Italiens und seiner Bewohner von Otto Spever. 2. Bd.. Berlin, Mittler und Sohn. — Der zweite Band dieses reizend geschriebenen Buchs enthält die Bilder aus Rom. Neapel und Sicilien; durchweg in den frischesten Farben und auf ernsten Studien beruhend. Als Anhang ist eine Skizze der italienischen Re¬ volution von 1849 gegeben, von der wir hier die wesentlichsten Züge mit- 53*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/429
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/429>, abgerufen am 02.05.2024.