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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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Der römische Majestätsproceß.

Bekanntlich sind die beiden großen Geschichtswerke, in denen Tacitus der
Nachwelt das unvergleichliche Gemälde der Zustände des ersten Jahrhunderts
hinterlassen hat. nur in Trümmern auf uns gekommen. Von den zuerst ge¬
schriebenen Historien, die in vierzehn Büchern die Geschichte vom Tode Neros
bis zum Tode Domitians erzählten, sind nur vier und der Anfang des fünften
(kaum mehr als die Geschichte eines Jahres) erhalten. Von den sechzehn
Büchern der Annalen, in denen er der Geschichte der selbsterlebten Zeit die
der unmittelbar voraufgegangenen vom Tode Augusts bis zum Tode Neros
hinzufügte, ist ebenfalls ein großer Theil verloren, namentlich die ganze Ge¬
schichte Caligulas, die ersten Jahre des Claudius und die letzten Neros. Den
für sein Alter verschobenen Plan, die Regierung Ncrvas und Trajans zu
schreiben, hat er trotz "des seltnen Glücks der Zeiten, in denen man denken darf
was man will und sagen was man denkt," nie ausgeführt.

Das ganze, aus dreißig Büchern bestehende Werk, die Geschichte der
Kaiserherrschaft im ersten Jahrhundert, ohne Haß und Gunst geschrieben, sollte
den Fürsten wie den Unterthanen gleich sehr zur Lehre und Warnung gerei¬
chen. "Hatte man (sagt der neueste Herausgeber des Tacitus, Nipperdey in
seiner vortrefflichen Vorrede) wie er, die Ueberzeugung von der Nothwendig¬
keit des Principals, so konnte man bei der Entsittlichung der Bürger nicht von
Verfassungsformen Heil erwarten, sondern vor allem von der Einsicht der
Fürsten selbst, daß die Freiheit mit der Monarchie in Einklang gebracht wer¬
den müsse. -- Und so ist es denn auch in den vollendeten Geschichtswerken
die unverkennbare Tendenz des Schriftstellers, Fürsten und Bürger von der
Nothwendigkeit zu überzeugen, zur Verwirklichung dieser Idee zusammenzu¬
wirken." An dem Unglück der dargestellten Zeit trugen die Regierten nicht
weniger Schuld als die Regierenden. "Die Fürsten wurden auf der abschüssi¬
gen Bahn des Despotismus gleichsam fortgelockt und fortgestoßen durch die
Niederträchtigkeit der Menschen selbst, die sie beherrschten, welche um persön¬
licher Vortheile willen es sich zum Zweck machten, ihren Launen und Leiden-


Grenzboten III. 1859. , i
Der römische Majestätsproceß.

Bekanntlich sind die beiden großen Geschichtswerke, in denen Tacitus der
Nachwelt das unvergleichliche Gemälde der Zustände des ersten Jahrhunderts
hinterlassen hat. nur in Trümmern auf uns gekommen. Von den zuerst ge¬
schriebenen Historien, die in vierzehn Büchern die Geschichte vom Tode Neros
bis zum Tode Domitians erzählten, sind nur vier und der Anfang des fünften
(kaum mehr als die Geschichte eines Jahres) erhalten. Von den sechzehn
Büchern der Annalen, in denen er der Geschichte der selbsterlebten Zeit die
der unmittelbar voraufgegangenen vom Tode Augusts bis zum Tode Neros
hinzufügte, ist ebenfalls ein großer Theil verloren, namentlich die ganze Ge¬
schichte Caligulas, die ersten Jahre des Claudius und die letzten Neros. Den
für sein Alter verschobenen Plan, die Regierung Ncrvas und Trajans zu
schreiben, hat er trotz „des seltnen Glücks der Zeiten, in denen man denken darf
was man will und sagen was man denkt," nie ausgeführt.

Das ganze, aus dreißig Büchern bestehende Werk, die Geschichte der
Kaiserherrschaft im ersten Jahrhundert, ohne Haß und Gunst geschrieben, sollte
den Fürsten wie den Unterthanen gleich sehr zur Lehre und Warnung gerei¬
chen. „Hatte man (sagt der neueste Herausgeber des Tacitus, Nipperdey in
seiner vortrefflichen Vorrede) wie er, die Ueberzeugung von der Nothwendig¬
keit des Principals, so konnte man bei der Entsittlichung der Bürger nicht von
Verfassungsformen Heil erwarten, sondern vor allem von der Einsicht der
Fürsten selbst, daß die Freiheit mit der Monarchie in Einklang gebracht wer¬
den müsse. — Und so ist es denn auch in den vollendeten Geschichtswerken
die unverkennbare Tendenz des Schriftstellers, Fürsten und Bürger von der
Nothwendigkeit zu überzeugen, zur Verwirklichung dieser Idee zusammenzu¬
wirken." An dem Unglück der dargestellten Zeit trugen die Regierten nicht
weniger Schuld als die Regierenden. „Die Fürsten wurden auf der abschüssi¬
gen Bahn des Despotismus gleichsam fortgelockt und fortgestoßen durch die
Niederträchtigkeit der Menschen selbst, die sie beherrschten, welche um persön¬
licher Vortheile willen es sich zum Zweck machten, ihren Launen und Leiden-


Grenzboten III. 1859. , i
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[0015] Der römische Majestätsproceß. Bekanntlich sind die beiden großen Geschichtswerke, in denen Tacitus der Nachwelt das unvergleichliche Gemälde der Zustände des ersten Jahrhunderts hinterlassen hat. nur in Trümmern auf uns gekommen. Von den zuerst ge¬ schriebenen Historien, die in vierzehn Büchern die Geschichte vom Tode Neros bis zum Tode Domitians erzählten, sind nur vier und der Anfang des fünften (kaum mehr als die Geschichte eines Jahres) erhalten. Von den sechzehn Büchern der Annalen, in denen er der Geschichte der selbsterlebten Zeit die der unmittelbar voraufgegangenen vom Tode Augusts bis zum Tode Neros hinzufügte, ist ebenfalls ein großer Theil verloren, namentlich die ganze Ge¬ schichte Caligulas, die ersten Jahre des Claudius und die letzten Neros. Den für sein Alter verschobenen Plan, die Regierung Ncrvas und Trajans zu schreiben, hat er trotz „des seltnen Glücks der Zeiten, in denen man denken darf was man will und sagen was man denkt," nie ausgeführt. Das ganze, aus dreißig Büchern bestehende Werk, die Geschichte der Kaiserherrschaft im ersten Jahrhundert, ohne Haß und Gunst geschrieben, sollte den Fürsten wie den Unterthanen gleich sehr zur Lehre und Warnung gerei¬ chen. „Hatte man (sagt der neueste Herausgeber des Tacitus, Nipperdey in seiner vortrefflichen Vorrede) wie er, die Ueberzeugung von der Nothwendig¬ keit des Principals, so konnte man bei der Entsittlichung der Bürger nicht von Verfassungsformen Heil erwarten, sondern vor allem von der Einsicht der Fürsten selbst, daß die Freiheit mit der Monarchie in Einklang gebracht wer¬ den müsse. — Und so ist es denn auch in den vollendeten Geschichtswerken die unverkennbare Tendenz des Schriftstellers, Fürsten und Bürger von der Nothwendigkeit zu überzeugen, zur Verwirklichung dieser Idee zusammenzu¬ wirken." An dem Unglück der dargestellten Zeit trugen die Regierten nicht weniger Schuld als die Regierenden. „Die Fürsten wurden auf der abschüssi¬ gen Bahn des Despotismus gleichsam fortgelockt und fortgestoßen durch die Niederträchtigkeit der Menschen selbst, die sie beherrschten, welche um persön¬ licher Vortheile willen es sich zum Zweck machten, ihren Launen und Leiden- Grenzboten III. 1859. , i

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/15>, abgerufen am 27.04.2024.