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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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Schelling.

Schelling und die Philosophie der Romantik. Ein Beitrag ^ Culturgeschichte de-
deutschen Geistes. Von Ludwig Noack. Prof. zu Gießen. 1. Bd. Ber-
lin, Mittler. --

Nachdem eine lange Zeit hindurch die Philosophie unsere deutsche Bil¬
dung so beherrscht hatte, daß jeder neue Fortschritt derselben als em Fort¬
schritt zum Bessern galt und daß man. um auf der Höhe der Bildung zu
bleiben, sich Jahr für Jahr erkundigen mußte, welche neue Stufe das specu-
lative Bewußtsein mittlerweile erstiegen habe, begann in der Mitte der mer¬
ziger Jahre eine allgemeine Reaction, die sich zunächst in der Gleichg'ltigke.t
gegen alles Philosophiren, dann in der Wiederaufnahme früherer ..überwun¬
dener" Standpunkte zeigte. Bald einigte man sich dahin, daß nach Kant die
Philosophie nur Rückschritte gemacht habe; diejenigen Systeme, die sich am
nächsten an ihn anschlössen, kamen wieder auf. so Herbart und Schopen¬
hauer; bis man schließlich die Offensive ergriff und die Entwickelung der
Philosophie seit Fichte nicht mehr von einem weitergehenden speculativen
Standpunkt aus. sondern nach Kantischen Principien widerlegte. Der Ver¬
such Hayms. den Bildungsgang Hegels genetisch darzustellen, gehört die-
W Richtung ebenso an wie das vorliegende Buch.

Haym mußte nothwendigerweise die polemische Seite stärker hervor¬
kehren, da es immer noch eine sehr starke Hegelsche Gemeinde gab. die rin
Stillen, wenn auch nicht mehr öffentlich an die absolute Logik glaubte, und
er zugleich den Feind in seinem eignen Innern zu bekämpfen hatte, ist°s ihm begegnet, im Zerreißen weiter zu gehn als er selber wollte. Die
Aufgabe Noacks war eine viel günstigere. Eigentliche Schellingiancr gibt es
unter den Gebildeten nicht mehr, und die Lustschlösser der Naturphilosophie
erregen nur noch eine heitere Verwunderung. Ohne seinem Zweck zu schaden
hätte er sich also die Aufgabe so stellen können, uns nachzuweisen, wie em
so feiner Kopf auf so wunderliche Irrwege gerieth und wie er trotz seiner
Thorheiten doch immer noch so viel Positives gab. um von den ersten Mannern
jener Zeit hochgeachtet zu werden und die Masse der strebsamen Jugend zu


Grenzboten III. 13S9.
Schelling.

Schelling und die Philosophie der Romantik. Ein Beitrag ^ Culturgeschichte de-
deutschen Geistes. Von Ludwig Noack. Prof. zu Gießen. 1. Bd. Ber-
lin, Mittler. —

Nachdem eine lange Zeit hindurch die Philosophie unsere deutsche Bil¬
dung so beherrscht hatte, daß jeder neue Fortschritt derselben als em Fort¬
schritt zum Bessern galt und daß man. um auf der Höhe der Bildung zu
bleiben, sich Jahr für Jahr erkundigen mußte, welche neue Stufe das specu-
lative Bewußtsein mittlerweile erstiegen habe, begann in der Mitte der mer¬
ziger Jahre eine allgemeine Reaction, die sich zunächst in der Gleichg'ltigke.t
gegen alles Philosophiren, dann in der Wiederaufnahme früherer ..überwun¬
dener" Standpunkte zeigte. Bald einigte man sich dahin, daß nach Kant die
Philosophie nur Rückschritte gemacht habe; diejenigen Systeme, die sich am
nächsten an ihn anschlössen, kamen wieder auf. so Herbart und Schopen¬
hauer; bis man schließlich die Offensive ergriff und die Entwickelung der
Philosophie seit Fichte nicht mehr von einem weitergehenden speculativen
Standpunkt aus. sondern nach Kantischen Principien widerlegte. Der Ver¬
such Hayms. den Bildungsgang Hegels genetisch darzustellen, gehört die-
W Richtung ebenso an wie das vorliegende Buch.

Haym mußte nothwendigerweise die polemische Seite stärker hervor¬
kehren, da es immer noch eine sehr starke Hegelsche Gemeinde gab. die rin
Stillen, wenn auch nicht mehr öffentlich an die absolute Logik glaubte, und
er zugleich den Feind in seinem eignen Innern zu bekämpfen hatte, ist°s ihm begegnet, im Zerreißen weiter zu gehn als er selber wollte. Die
Aufgabe Noacks war eine viel günstigere. Eigentliche Schellingiancr gibt es
unter den Gebildeten nicht mehr, und die Lustschlösser der Naturphilosophie
erregen nur noch eine heitere Verwunderung. Ohne seinem Zweck zu schaden
hätte er sich also die Aufgabe so stellen können, uns nachzuweisen, wie em
so feiner Kopf auf so wunderliche Irrwege gerieth und wie er trotz seiner
Thorheiten doch immer noch so viel Positives gab. um von den ersten Mannern
jener Zeit hochgeachtet zu werden und die Masse der strebsamen Jugend zu


Grenzboten III. 13S9.
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[0055] Schelling. Schelling und die Philosophie der Romantik. Ein Beitrag ^ Culturgeschichte de- deutschen Geistes. Von Ludwig Noack. Prof. zu Gießen. 1. Bd. Ber- lin, Mittler. — Nachdem eine lange Zeit hindurch die Philosophie unsere deutsche Bil¬ dung so beherrscht hatte, daß jeder neue Fortschritt derselben als em Fort¬ schritt zum Bessern galt und daß man. um auf der Höhe der Bildung zu bleiben, sich Jahr für Jahr erkundigen mußte, welche neue Stufe das specu- lative Bewußtsein mittlerweile erstiegen habe, begann in der Mitte der mer¬ ziger Jahre eine allgemeine Reaction, die sich zunächst in der Gleichg'ltigke.t gegen alles Philosophiren, dann in der Wiederaufnahme früherer ..überwun¬ dener" Standpunkte zeigte. Bald einigte man sich dahin, daß nach Kant die Philosophie nur Rückschritte gemacht habe; diejenigen Systeme, die sich am nächsten an ihn anschlössen, kamen wieder auf. so Herbart und Schopen¬ hauer; bis man schließlich die Offensive ergriff und die Entwickelung der Philosophie seit Fichte nicht mehr von einem weitergehenden speculativen Standpunkt aus. sondern nach Kantischen Principien widerlegte. Der Ver¬ such Hayms. den Bildungsgang Hegels genetisch darzustellen, gehört die- W Richtung ebenso an wie das vorliegende Buch. Haym mußte nothwendigerweise die polemische Seite stärker hervor¬ kehren, da es immer noch eine sehr starke Hegelsche Gemeinde gab. die rin Stillen, wenn auch nicht mehr öffentlich an die absolute Logik glaubte, und er zugleich den Feind in seinem eignen Innern zu bekämpfen hatte, ist°s ihm begegnet, im Zerreißen weiter zu gehn als er selber wollte. Die Aufgabe Noacks war eine viel günstigere. Eigentliche Schellingiancr gibt es unter den Gebildeten nicht mehr, und die Lustschlösser der Naturphilosophie erregen nur noch eine heitere Verwunderung. Ohne seinem Zweck zu schaden hätte er sich also die Aufgabe so stellen können, uns nachzuweisen, wie em so feiner Kopf auf so wunderliche Irrwege gerieth und wie er trotz seiner Thorheiten doch immer noch so viel Positives gab. um von den ersten Mannern jener Zeit hochgeachtet zu werden und die Masse der strebsamen Jugend zu Grenzboten III. 13S9.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/55>, abgerufen am 28.04.2024.