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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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Nein'ussl'sche Realpolitik.
2.

Die Zeit schweigender Erwartung in der russischen Nation zwischen dem
pariser Frieden und der moskauer Krönung blieb von der Stellungnahme der
russischen Politik zum Auslande nicht unbeyutzt. Graf Orloff, welcher be¬
kanntlich mit unvergleichlicher Gewandtheit eine Scparatverständigung zwischen
dem pariser und Petersburger Hofe erreichte, bevor noch die Friedcnscon-
screnzen der Diplomaten begonnen hatten, trat an die Spitze des kaiserlichen
Cabinets, Fürst Gortschatoff, welcher in Wien jahrelang das Terrain mit
allen Mitteln Nesselrodescher Politik beherrscht hatte und schließlich dennoch
in rascher Wendung derselben entgegentrat, als sie den Fehler machen wollte,
auch da noch den Widerstand fortzusetzen, als Oestreichs äußere Nöthigung zu
einer activen Kricgspolitik stärker geworden war, wie se'in eigner Wille, wäh¬
rend Nußland nicht im Stande gewesen wäre, auch dieses neue Kriegstheater
zu behaupten -- dieser Fürst Gortschakoff empfing das Portefeuille des Aeu-
ßern. An die Stelle des greisen Kriegsministers Fürsten Dolgoruki trat aber
nicht sein von der aristokratischen Kriegspartei erhoffter Adjunct Katenin, son¬
dern der als strenger Militärverwalter bekannte General Sukhozanct der Zweite.
Diese drei Ernennungen, welche gleichzeitig im April 1856 erfolgten und zwar so
eilig, daß Graf Orloff noch nicht einmal zurückgekehrt war, sprachen deutlich
genug; sie hießen: Freundschaft mit der in Napoleon des Dritten Persönlichkeit
concentrirten Politik Frankreichs. Fortdauer der unausgcsöhntcn Stellung zu
Oestreich, innere Kräftigung des Armenwesens. Aber auch die Partei der alt¬
russischen Traditionen ward nicht vergessen. Die Kriegspolitik, welche mo¬
mentan in Europa desavouirt war, wurde auf Mittelasien gewiesen. Gleich¬
sam als Bürgschaft dafür, daß die Regierung dort ihre alten Ueberlieferungen
mit neuem Eiser verfolgen werde, ward Katenin zum Generalgouvemeur von
Orenburg und Samarah ernannt, während Murawieff, der Sieger von Kars
und Gcneralstatthalter Kaukasiers, das Obcrcommaudo von Amur erhielt, in¬
dessen Paniutin mit China über Erweiterung des russischen Gebiets bereits
verhandelte.

Die englisch-östreichisch-französische Tripelallianz, welche fast am Tage
jener Petersburger Ernennungen unterzeichnet wurde (16. April), um den März¬
frieden gegen Nußland zu sichern, hinderte im Augenblick ein hastiges Vor¬
schreiten freundschaftlicher Anknüpfungen mit Frankreich. Dagegen gab sie
vortreffliche Gelegenheit, vor Europa zu constatiren, daß Rußlands Kaiser


Nein'ussl'sche Realpolitik.
2.

Die Zeit schweigender Erwartung in der russischen Nation zwischen dem
pariser Frieden und der moskauer Krönung blieb von der Stellungnahme der
russischen Politik zum Auslande nicht unbeyutzt. Graf Orloff, welcher be¬
kanntlich mit unvergleichlicher Gewandtheit eine Scparatverständigung zwischen
dem pariser und Petersburger Hofe erreichte, bevor noch die Friedcnscon-
screnzen der Diplomaten begonnen hatten, trat an die Spitze des kaiserlichen
Cabinets, Fürst Gortschatoff, welcher in Wien jahrelang das Terrain mit
allen Mitteln Nesselrodescher Politik beherrscht hatte und schließlich dennoch
in rascher Wendung derselben entgegentrat, als sie den Fehler machen wollte,
auch da noch den Widerstand fortzusetzen, als Oestreichs äußere Nöthigung zu
einer activen Kricgspolitik stärker geworden war, wie se'in eigner Wille, wäh¬
rend Nußland nicht im Stande gewesen wäre, auch dieses neue Kriegstheater
zu behaupten — dieser Fürst Gortschakoff empfing das Portefeuille des Aeu-
ßern. An die Stelle des greisen Kriegsministers Fürsten Dolgoruki trat aber
nicht sein von der aristokratischen Kriegspartei erhoffter Adjunct Katenin, son¬
dern der als strenger Militärverwalter bekannte General Sukhozanct der Zweite.
Diese drei Ernennungen, welche gleichzeitig im April 1856 erfolgten und zwar so
eilig, daß Graf Orloff noch nicht einmal zurückgekehrt war, sprachen deutlich
genug; sie hießen: Freundschaft mit der in Napoleon des Dritten Persönlichkeit
concentrirten Politik Frankreichs. Fortdauer der unausgcsöhntcn Stellung zu
Oestreich, innere Kräftigung des Armenwesens. Aber auch die Partei der alt¬
russischen Traditionen ward nicht vergessen. Die Kriegspolitik, welche mo¬
mentan in Europa desavouirt war, wurde auf Mittelasien gewiesen. Gleich¬
sam als Bürgschaft dafür, daß die Regierung dort ihre alten Ueberlieferungen
mit neuem Eiser verfolgen werde, ward Katenin zum Generalgouvemeur von
Orenburg und Samarah ernannt, während Murawieff, der Sieger von Kars
und Gcneralstatthalter Kaukasiers, das Obcrcommaudo von Amur erhielt, in¬
dessen Paniutin mit China über Erweiterung des russischen Gebiets bereits
verhandelte.

Die englisch-östreichisch-französische Tripelallianz, welche fast am Tage
jener Petersburger Ernennungen unterzeichnet wurde (16. April), um den März¬
frieden gegen Nußland zu sichern, hinderte im Augenblick ein hastiges Vor¬
schreiten freundschaftlicher Anknüpfungen mit Frankreich. Dagegen gab sie
vortreffliche Gelegenheit, vor Europa zu constatiren, daß Rußlands Kaiser


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[0391] Nein'ussl'sche Realpolitik. 2. Die Zeit schweigender Erwartung in der russischen Nation zwischen dem pariser Frieden und der moskauer Krönung blieb von der Stellungnahme der russischen Politik zum Auslande nicht unbeyutzt. Graf Orloff, welcher be¬ kanntlich mit unvergleichlicher Gewandtheit eine Scparatverständigung zwischen dem pariser und Petersburger Hofe erreichte, bevor noch die Friedcnscon- screnzen der Diplomaten begonnen hatten, trat an die Spitze des kaiserlichen Cabinets, Fürst Gortschatoff, welcher in Wien jahrelang das Terrain mit allen Mitteln Nesselrodescher Politik beherrscht hatte und schließlich dennoch in rascher Wendung derselben entgegentrat, als sie den Fehler machen wollte, auch da noch den Widerstand fortzusetzen, als Oestreichs äußere Nöthigung zu einer activen Kricgspolitik stärker geworden war, wie se'in eigner Wille, wäh¬ rend Nußland nicht im Stande gewesen wäre, auch dieses neue Kriegstheater zu behaupten — dieser Fürst Gortschakoff empfing das Portefeuille des Aeu- ßern. An die Stelle des greisen Kriegsministers Fürsten Dolgoruki trat aber nicht sein von der aristokratischen Kriegspartei erhoffter Adjunct Katenin, son¬ dern der als strenger Militärverwalter bekannte General Sukhozanct der Zweite. Diese drei Ernennungen, welche gleichzeitig im April 1856 erfolgten und zwar so eilig, daß Graf Orloff noch nicht einmal zurückgekehrt war, sprachen deutlich genug; sie hießen: Freundschaft mit der in Napoleon des Dritten Persönlichkeit concentrirten Politik Frankreichs. Fortdauer der unausgcsöhntcn Stellung zu Oestreich, innere Kräftigung des Armenwesens. Aber auch die Partei der alt¬ russischen Traditionen ward nicht vergessen. Die Kriegspolitik, welche mo¬ mentan in Europa desavouirt war, wurde auf Mittelasien gewiesen. Gleich¬ sam als Bürgschaft dafür, daß die Regierung dort ihre alten Ueberlieferungen mit neuem Eiser verfolgen werde, ward Katenin zum Generalgouvemeur von Orenburg und Samarah ernannt, während Murawieff, der Sieger von Kars und Gcneralstatthalter Kaukasiers, das Obcrcommaudo von Amur erhielt, in¬ dessen Paniutin mit China über Erweiterung des russischen Gebiets bereits verhandelte. Die englisch-östreichisch-französische Tripelallianz, welche fast am Tage jener Petersburger Ernennungen unterzeichnet wurde (16. April), um den März¬ frieden gegen Nußland zu sichern, hinderte im Augenblick ein hastiges Vor¬ schreiten freundschaftlicher Anknüpfungen mit Frankreich. Dagegen gab sie vortreffliche Gelegenheit, vor Europa zu constatiren, daß Rußlands Kaiser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/391>, abgerufen am 04.05.2024.