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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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Russische Zustände.
4.
Die Staatskirche und die Sekten (Starowerzi oder Naskolniki).

Die russische Regierung verfährt in Betreff der Gewissensfreiheit, wie sie
in alten Zweigen der Verwaltung zu verfahren pflegt, d. h. im Allgemeinen
nach Laune und Belieben. Die Gewissensfreiheit steht in den Gesetzbüchern,
sie gehört sogar zu den Grundgesetzen des Reiches, aber von allen diesen
Grundgesetzen wird eigentlich nur ein einziges immer und unter allen Um¬
ständen beobachtet: das nämlich, welches dem Kaiser das Recht verleiht, zu
thun, was ihm gefällt. Die Regierung, statt die Gewissensfreiheit als po¬
litischen Grundsatz, als obersten Leitstern ihres Verfahrens zu betrachten,
wie dies alle wirklich civilisirten Regierungen thun, nimmt sich daraus, was
sie will und gestattet den Einen zu glauben, was sie wollen, während sie
Andere, oft auf grausame Weise, nöthigt gegen ihren Glauben zu leben.

So erfreuen sich die Lutheraner, die Muselmänner und die Heiden voll¬
kommener Gewissensfreiheit, wogegen die Römisch-Katholischen sich häusigen
Verfolgungen ausgesetzt sehn und die Israeliten zwar ihren Cultus ungehin¬
dert ausüben, aber nur wenige der staatsbürgerlichen Rechte genießen, die
selbst den Heiden zugestanden sind. Die Sekten der morgenländischen Kirche
endlich, denen die freie Ausübung ihres Gottesdienstes untersagt ist, sind ge¬
nöthigt, Gott nach ihrer Art im Geheimen zu dienen, indem sie die Polizei
bestechen. So existirt die Gewissensfreiheit in Rußland nach dieser Seite hin
nur unter dem Mantel der bureaukratischen Käuflichkeit. Gelegentlich wird sie
hier durch eine polizeiliche Razzia gestört, die, wie ein Orkan Ruin und
Unheil auf ihrem Wege verbreitend, rasch vorübergeht, worauf die alther¬
kömmliche Käuflichkeit wieder in ihre Rechte tritt.

Um zu zeigen, was sich die Bureaukratie und ihr Werkzeug, die politische
Polizei noch jetzt erlauben kann, in einer Epoche, wo die russische Regierung
unter einem wohlwollenden Fürsten an der Befreiung der Leibeignen arbeitet


Grenzboten in, iggg, 20
Russische Zustände.
4.
Die Staatskirche und die Sekten (Starowerzi oder Naskolniki).

Die russische Regierung verfährt in Betreff der Gewissensfreiheit, wie sie
in alten Zweigen der Verwaltung zu verfahren pflegt, d. h. im Allgemeinen
nach Laune und Belieben. Die Gewissensfreiheit steht in den Gesetzbüchern,
sie gehört sogar zu den Grundgesetzen des Reiches, aber von allen diesen
Grundgesetzen wird eigentlich nur ein einziges immer und unter allen Um¬
ständen beobachtet: das nämlich, welches dem Kaiser das Recht verleiht, zu
thun, was ihm gefällt. Die Regierung, statt die Gewissensfreiheit als po¬
litischen Grundsatz, als obersten Leitstern ihres Verfahrens zu betrachten,
wie dies alle wirklich civilisirten Regierungen thun, nimmt sich daraus, was
sie will und gestattet den Einen zu glauben, was sie wollen, während sie
Andere, oft auf grausame Weise, nöthigt gegen ihren Glauben zu leben.

So erfreuen sich die Lutheraner, die Muselmänner und die Heiden voll¬
kommener Gewissensfreiheit, wogegen die Römisch-Katholischen sich häusigen
Verfolgungen ausgesetzt sehn und die Israeliten zwar ihren Cultus ungehin¬
dert ausüben, aber nur wenige der staatsbürgerlichen Rechte genießen, die
selbst den Heiden zugestanden sind. Die Sekten der morgenländischen Kirche
endlich, denen die freie Ausübung ihres Gottesdienstes untersagt ist, sind ge¬
nöthigt, Gott nach ihrer Art im Geheimen zu dienen, indem sie die Polizei
bestechen. So existirt die Gewissensfreiheit in Rußland nach dieser Seite hin
nur unter dem Mantel der bureaukratischen Käuflichkeit. Gelegentlich wird sie
hier durch eine polizeiliche Razzia gestört, die, wie ein Orkan Ruin und
Unheil auf ihrem Wege verbreitend, rasch vorübergeht, worauf die alther¬
kömmliche Käuflichkeit wieder in ihre Rechte tritt.

Um zu zeigen, was sich die Bureaukratie und ihr Werkzeug, die politische
Polizei noch jetzt erlauben kann, in einer Epoche, wo die russische Regierung
unter einem wohlwollenden Fürsten an der Befreiung der Leibeignen arbeitet


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[0213] Russische Zustände. 4. Die Staatskirche und die Sekten (Starowerzi oder Naskolniki). Die russische Regierung verfährt in Betreff der Gewissensfreiheit, wie sie in alten Zweigen der Verwaltung zu verfahren pflegt, d. h. im Allgemeinen nach Laune und Belieben. Die Gewissensfreiheit steht in den Gesetzbüchern, sie gehört sogar zu den Grundgesetzen des Reiches, aber von allen diesen Grundgesetzen wird eigentlich nur ein einziges immer und unter allen Um¬ ständen beobachtet: das nämlich, welches dem Kaiser das Recht verleiht, zu thun, was ihm gefällt. Die Regierung, statt die Gewissensfreiheit als po¬ litischen Grundsatz, als obersten Leitstern ihres Verfahrens zu betrachten, wie dies alle wirklich civilisirten Regierungen thun, nimmt sich daraus, was sie will und gestattet den Einen zu glauben, was sie wollen, während sie Andere, oft auf grausame Weise, nöthigt gegen ihren Glauben zu leben. So erfreuen sich die Lutheraner, die Muselmänner und die Heiden voll¬ kommener Gewissensfreiheit, wogegen die Römisch-Katholischen sich häusigen Verfolgungen ausgesetzt sehn und die Israeliten zwar ihren Cultus ungehin¬ dert ausüben, aber nur wenige der staatsbürgerlichen Rechte genießen, die selbst den Heiden zugestanden sind. Die Sekten der morgenländischen Kirche endlich, denen die freie Ausübung ihres Gottesdienstes untersagt ist, sind ge¬ nöthigt, Gott nach ihrer Art im Geheimen zu dienen, indem sie die Polizei bestechen. So existirt die Gewissensfreiheit in Rußland nach dieser Seite hin nur unter dem Mantel der bureaukratischen Käuflichkeit. Gelegentlich wird sie hier durch eine polizeiliche Razzia gestört, die, wie ein Orkan Ruin und Unheil auf ihrem Wege verbreitend, rasch vorübergeht, worauf die alther¬ kömmliche Käuflichkeit wieder in ihre Rechte tritt. Um zu zeigen, was sich die Bureaukratie und ihr Werkzeug, die politische Polizei noch jetzt erlauben kann, in einer Epoche, wo die russische Regierung unter einem wohlwollenden Fürsten an der Befreiung der Leibeignen arbeitet Grenzboten in, iggg, 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/213>, abgerufen am 01.05.2024.