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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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Die Russen in Jerusalem.
i.

> "Aber wer sind diese struppigen Gesellen?" fragte ich, an einem warmen
Märzmorgcn dieses Jahres, aus dem Meditcrranean-Hotel zu Jerusalem auf
die mit Pilgern aus allen Nationen angefüllte "Christenstraße" heraustretend,
den Dragoman, der mir als Cicerone diente.

,Ma ö xossidils," antwortete der Hicropolit, "eds iron eonosee i Russi?"

Den Vorwurf, der in dieser Frage lag, hätte ich mir bei mehr Ueber-
legung ersparen können. An den Gestalten, die sich eben vor uns her beweg¬
ten, war ein gewisser europäischer Habitus nicht zu verkennen, und bestimmte
sich danach im Großen und Ganzen ihre Abstammung, so ließ sich die Erschei¬
nung keiner andern Nationalität als nur der russischen anpassen. Wenn ich
aber in dem Augenblicke meine Gedanken nicht bei einander hatte, so konnte
das kaum befremden. Nur den Abend zuvor war ich nach beschwerlicher Land¬
reise von Aegypten her mit untergehender Sonne in der si. Stadt eingetroffen,
und nachdem eine kurze civilisirte Nachtruhe uur ungenügend die Müdigkeit aus
meinen Gliedern vertrieben, überwältigte mich fast die Fülle des Neuen, in
welches ich bei meinem ersten Ausgange hineingerieth. Auch fehlte mir für
daH russische Volk alle anschauungsmäßige Erfahrung; denn aus verricht sel-
t"HBegegnung mit den, den Westen Europas bereisenden Adligen, diesen
MPMchultcn Adepten einer kosmopolitischen Salonbildung, ließ sich solche
nicht schöpfen. Mit einem Herrn v. M . . . f. einem Angehörigen der besagten
Kaste, ^Klee ich soeben von Kairo bis nach Gaza, wo er für einige Tage
zurückblieb, die Kameelreise der kleinen Wüste gemacht, und wir waren uns in¬
mitten dK bunt zusammengewürfelten Gesellschaft ziemlich nahe gekommen.
Es hatte mich überrascht, nach häusigen Erfahrungen mit seinen Standes-
genossen, deren vollendete äußere Bildung nur den Zweck zu haben schien, eine
sehr mangelhafte innere zu verstecken, bei diesem jungen Manne eine Gründ-
lichkeit des Wissens, eine Tiefe des Strebens zu finden, welche ich unter der
glatten Oberfläche nicht erwartete. Seine Mittheilungen über die Zustände in


Grenzboten III. 1360. 31
Die Russen in Jerusalem.
i.

> „Aber wer sind diese struppigen Gesellen?" fragte ich, an einem warmen
Märzmorgcn dieses Jahres, aus dem Meditcrranean-Hotel zu Jerusalem auf
die mit Pilgern aus allen Nationen angefüllte „Christenstraße" heraustretend,
den Dragoman, der mir als Cicerone diente.

,Ma ö xossidils," antwortete der Hicropolit, „eds iron eonosee i Russi?"

Den Vorwurf, der in dieser Frage lag, hätte ich mir bei mehr Ueber-
legung ersparen können. An den Gestalten, die sich eben vor uns her beweg¬
ten, war ein gewisser europäischer Habitus nicht zu verkennen, und bestimmte
sich danach im Großen und Ganzen ihre Abstammung, so ließ sich die Erschei¬
nung keiner andern Nationalität als nur der russischen anpassen. Wenn ich
aber in dem Augenblicke meine Gedanken nicht bei einander hatte, so konnte
das kaum befremden. Nur den Abend zuvor war ich nach beschwerlicher Land¬
reise von Aegypten her mit untergehender Sonne in der si. Stadt eingetroffen,
und nachdem eine kurze civilisirte Nachtruhe uur ungenügend die Müdigkeit aus
meinen Gliedern vertrieben, überwältigte mich fast die Fülle des Neuen, in
welches ich bei meinem ersten Ausgange hineingerieth. Auch fehlte mir für
daH russische Volk alle anschauungsmäßige Erfahrung; denn aus verricht sel-
t«HBegegnung mit den, den Westen Europas bereisenden Adligen, diesen
MPMchultcn Adepten einer kosmopolitischen Salonbildung, ließ sich solche
nicht schöpfen. Mit einem Herrn v. M . . . f. einem Angehörigen der besagten
Kaste, ^Klee ich soeben von Kairo bis nach Gaza, wo er für einige Tage
zurückblieb, die Kameelreise der kleinen Wüste gemacht, und wir waren uns in¬
mitten dK bunt zusammengewürfelten Gesellschaft ziemlich nahe gekommen.
Es hatte mich überrascht, nach häusigen Erfahrungen mit seinen Standes-
genossen, deren vollendete äußere Bildung nur den Zweck zu haben schien, eine
sehr mangelhafte innere zu verstecken, bei diesem jungen Manne eine Gründ-
lichkeit des Wissens, eine Tiefe des Strebens zu finden, welche ich unter der
glatten Oberfläche nicht erwartete. Seine Mittheilungen über die Zustände in


Grenzboten III. 1360. 31
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[0253] Die Russen in Jerusalem. i. > „Aber wer sind diese struppigen Gesellen?" fragte ich, an einem warmen Märzmorgcn dieses Jahres, aus dem Meditcrranean-Hotel zu Jerusalem auf die mit Pilgern aus allen Nationen angefüllte „Christenstraße" heraustretend, den Dragoman, der mir als Cicerone diente. ,Ma ö xossidils," antwortete der Hicropolit, „eds iron eonosee i Russi?" Den Vorwurf, der in dieser Frage lag, hätte ich mir bei mehr Ueber- legung ersparen können. An den Gestalten, die sich eben vor uns her beweg¬ ten, war ein gewisser europäischer Habitus nicht zu verkennen, und bestimmte sich danach im Großen und Ganzen ihre Abstammung, so ließ sich die Erschei¬ nung keiner andern Nationalität als nur der russischen anpassen. Wenn ich aber in dem Augenblicke meine Gedanken nicht bei einander hatte, so konnte das kaum befremden. Nur den Abend zuvor war ich nach beschwerlicher Land¬ reise von Aegypten her mit untergehender Sonne in der si. Stadt eingetroffen, und nachdem eine kurze civilisirte Nachtruhe uur ungenügend die Müdigkeit aus meinen Gliedern vertrieben, überwältigte mich fast die Fülle des Neuen, in welches ich bei meinem ersten Ausgange hineingerieth. Auch fehlte mir für daH russische Volk alle anschauungsmäßige Erfahrung; denn aus verricht sel- t«HBegegnung mit den, den Westen Europas bereisenden Adligen, diesen MPMchultcn Adepten einer kosmopolitischen Salonbildung, ließ sich solche nicht schöpfen. Mit einem Herrn v. M . . . f. einem Angehörigen der besagten Kaste, ^Klee ich soeben von Kairo bis nach Gaza, wo er für einige Tage zurückblieb, die Kameelreise der kleinen Wüste gemacht, und wir waren uns in¬ mitten dK bunt zusammengewürfelten Gesellschaft ziemlich nahe gekommen. Es hatte mich überrascht, nach häusigen Erfahrungen mit seinen Standes- genossen, deren vollendete äußere Bildung nur den Zweck zu haben schien, eine sehr mangelhafte innere zu verstecken, bei diesem jungen Manne eine Gründ- lichkeit des Wissens, eine Tiefe des Strebens zu finden, welche ich unter der glatten Oberfläche nicht erwartete. Seine Mittheilungen über die Zustände in Grenzboten III. 1360. 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/253>, abgerufen am 01.05.2024.