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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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Bilder aus der Geschichte des Pietismus.
2.
I. Chr. Edelmann.

Es versteht sich von selbst, daß der berüchtigtste unter allen Feinden des
Christenthums, welche Deutschland hervorgebracht, nur ins zu einem gewissen
Stadium seiner Entwickelung in diese Reihe gehört. Nicht den fertigen Spi-
"ozisten, der sich mit einem geschlossenen Glaubensbekenntnis) dem Christen¬
thum gegenüber stellt, haben wir hier zu betrachten, sondern den Grübler,
der mit angstvoller Anstrengung von den Voraussetzungen, die ihm lästig wer¬
den, allmälig sich zu befreien sucht.

Edelmann erregte zur Zeit seiner literarischen Wirksamkeit von 1735--
1.749 in der theologischen Welt einen ungeheuren Sturm: von dem ganzen
Alphabet der Schimpfwörter, die Börne einmal gesammelt hat, wurde ihm
keins erspart; wer sich eine ungefähre Uebersicht davon verschaffen will, der
lese des Generalsuperintendenten Pratje "Nachrichten von dem Leben des be¬
rüchtigten Neligionsspötters Edelmann", zweite Auflage 1755. Der fromme Ver¬
fasser hatte die Naivetät, an Edelmann zu schreiben und ihn zu etwaigen fac¬
tischen Berichtigungen aufzufordern: Edelmanns Antwort gehört zu dem besten,
was er geschrieben hat, und ist ein Muster feiner Persiflage. Als er dann
aufhörte zu schreiben, wurde er mit seinen Werken so vollständig vergessen, daß
Bruno Bauer im Jahre 1843 ihn gewissermaßen neu entdeckte. Seitdem hat
man in Hamburg das Manuscript einer Selbstbiographie aufgefunden, ge¬
schrieben 1752, und dasselbe 1849 herausgegeben. Der Herausgeber hat sür
nöthig gefunden, in kurzen Anmerkungen darauf hinzudeuten, daß er den Stand-
Punkt Pratje's vollständig theilt. Die Biographie ist etwas weitschweifig und
geht auf Nebensachen sehr ausführlich ein, während sie uns bei manchen wich¬
tigen Fragen im Stich läßt, aber sie enthält doch für die Culturgeschichte jener
Zeit ein sehr wichtiges Material. Mit der Orthodoxie zerfallen, durchsucht
Edelmann nur ungestümer Hast alle möglichen Seiten jener Zeit, um die echten
Christen zu entdecken, und gibt uns so, indem er seine eigne Krankheitsgeschichte
schildert, zugleich eine Pathologie des Jahrhunderts. Ehe wir auf diese ein¬
gehn, geben wir noch einige allgemeine Bemerkungen über die Geschichte des
Pietismus.

Der Pietismus war in seinem Ursprung eine reformatorische Bewegung,
eine Bewegung, deren Nothwendigkeit allgemein gefühlt wurde. Denn das
kirchliche Leben in der Mitte des 17. Jahrhunderts war fast eben so zur Lüge
geworden, als das zu Anfang des 16. Das Christenthum beschränkte sich


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Bilder aus der Geschichte des Pietismus.
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I. Chr. Edelmann.

Es versteht sich von selbst, daß der berüchtigtste unter allen Feinden des
Christenthums, welche Deutschland hervorgebracht, nur ins zu einem gewissen
Stadium seiner Entwickelung in diese Reihe gehört. Nicht den fertigen Spi-
»ozisten, der sich mit einem geschlossenen Glaubensbekenntnis) dem Christen¬
thum gegenüber stellt, haben wir hier zu betrachten, sondern den Grübler,
der mit angstvoller Anstrengung von den Voraussetzungen, die ihm lästig wer¬
den, allmälig sich zu befreien sucht.

Edelmann erregte zur Zeit seiner literarischen Wirksamkeit von 1735—
1.749 in der theologischen Welt einen ungeheuren Sturm: von dem ganzen
Alphabet der Schimpfwörter, die Börne einmal gesammelt hat, wurde ihm
keins erspart; wer sich eine ungefähre Uebersicht davon verschaffen will, der
lese des Generalsuperintendenten Pratje „Nachrichten von dem Leben des be¬
rüchtigten Neligionsspötters Edelmann", zweite Auflage 1755. Der fromme Ver¬
fasser hatte die Naivetät, an Edelmann zu schreiben und ihn zu etwaigen fac¬
tischen Berichtigungen aufzufordern: Edelmanns Antwort gehört zu dem besten,
was er geschrieben hat, und ist ein Muster feiner Persiflage. Als er dann
aufhörte zu schreiben, wurde er mit seinen Werken so vollständig vergessen, daß
Bruno Bauer im Jahre 1843 ihn gewissermaßen neu entdeckte. Seitdem hat
man in Hamburg das Manuscript einer Selbstbiographie aufgefunden, ge¬
schrieben 1752, und dasselbe 1849 herausgegeben. Der Herausgeber hat sür
nöthig gefunden, in kurzen Anmerkungen darauf hinzudeuten, daß er den Stand-
Punkt Pratje's vollständig theilt. Die Biographie ist etwas weitschweifig und
geht auf Nebensachen sehr ausführlich ein, während sie uns bei manchen wich¬
tigen Fragen im Stich läßt, aber sie enthält doch für die Culturgeschichte jener
Zeit ein sehr wichtiges Material. Mit der Orthodoxie zerfallen, durchsucht
Edelmann nur ungestümer Hast alle möglichen Seiten jener Zeit, um die echten
Christen zu entdecken, und gibt uns so, indem er seine eigne Krankheitsgeschichte
schildert, zugleich eine Pathologie des Jahrhunderts. Ehe wir auf diese ein¬
gehn, geben wir noch einige allgemeine Bemerkungen über die Geschichte des
Pietismus.

Der Pietismus war in seinem Ursprung eine reformatorische Bewegung,
eine Bewegung, deren Nothwendigkeit allgemein gefühlt wurde. Denn das
kirchliche Leben in der Mitte des 17. Jahrhunderts war fast eben so zur Lüge
geworden, als das zu Anfang des 16. Das Christenthum beschränkte sich


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[0471] Bilder aus der Geschichte des Pietismus. 2. I. Chr. Edelmann. Es versteht sich von selbst, daß der berüchtigtste unter allen Feinden des Christenthums, welche Deutschland hervorgebracht, nur ins zu einem gewissen Stadium seiner Entwickelung in diese Reihe gehört. Nicht den fertigen Spi- »ozisten, der sich mit einem geschlossenen Glaubensbekenntnis) dem Christen¬ thum gegenüber stellt, haben wir hier zu betrachten, sondern den Grübler, der mit angstvoller Anstrengung von den Voraussetzungen, die ihm lästig wer¬ den, allmälig sich zu befreien sucht. Edelmann erregte zur Zeit seiner literarischen Wirksamkeit von 1735— 1.749 in der theologischen Welt einen ungeheuren Sturm: von dem ganzen Alphabet der Schimpfwörter, die Börne einmal gesammelt hat, wurde ihm keins erspart; wer sich eine ungefähre Uebersicht davon verschaffen will, der lese des Generalsuperintendenten Pratje „Nachrichten von dem Leben des be¬ rüchtigten Neligionsspötters Edelmann", zweite Auflage 1755. Der fromme Ver¬ fasser hatte die Naivetät, an Edelmann zu schreiben und ihn zu etwaigen fac¬ tischen Berichtigungen aufzufordern: Edelmanns Antwort gehört zu dem besten, was er geschrieben hat, und ist ein Muster feiner Persiflage. Als er dann aufhörte zu schreiben, wurde er mit seinen Werken so vollständig vergessen, daß Bruno Bauer im Jahre 1843 ihn gewissermaßen neu entdeckte. Seitdem hat man in Hamburg das Manuscript einer Selbstbiographie aufgefunden, ge¬ schrieben 1752, und dasselbe 1849 herausgegeben. Der Herausgeber hat sür nöthig gefunden, in kurzen Anmerkungen darauf hinzudeuten, daß er den Stand- Punkt Pratje's vollständig theilt. Die Biographie ist etwas weitschweifig und geht auf Nebensachen sehr ausführlich ein, während sie uns bei manchen wich¬ tigen Fragen im Stich läßt, aber sie enthält doch für die Culturgeschichte jener Zeit ein sehr wichtiges Material. Mit der Orthodoxie zerfallen, durchsucht Edelmann nur ungestümer Hast alle möglichen Seiten jener Zeit, um die echten Christen zu entdecken, und gibt uns so, indem er seine eigne Krankheitsgeschichte schildert, zugleich eine Pathologie des Jahrhunderts. Ehe wir auf diese ein¬ gehn, geben wir noch einige allgemeine Bemerkungen über die Geschichte des Pietismus. Der Pietismus war in seinem Ursprung eine reformatorische Bewegung, eine Bewegung, deren Nothwendigkeit allgemein gefühlt wurde. Denn das kirchliche Leben in der Mitte des 17. Jahrhunderts war fast eben so zur Lüge geworden, als das zu Anfang des 16. Das Christenthum beschränkte sich 58*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/471>, abgerufen am 30.04.2024.