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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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dortigen Männerturnvcreine eine darauf zielende öffentliche Erklärung erlassen
und fordert andere Turnvereine aus, sich derselben anzuschließen.




Reiseeindrücke ans München und Wien.

Sind Wien, Berlin, Dresden, Köln und die meisten andern Großstädte
Deutschlands organische Gebilde, die in Folge eines natürlichen Wachsthums
und geschichtlichen Verlaufes das geworden sind, was sie sind: so gilt von der
Hauptstadt Bayerns das gerade Gegentheil: sie ist nicht geworden, sondern
gemacht. Es gibt zwar neben dem neuen München, das fast allein die Auf¬
merksamkeit des Fremden auf sich zieht, auch ein altes München, das er um
irgend eines alten Gebäudes willen, oder weil ihn sein Weg hindurch führt,
nebenher in Augenschein nimmt: enge Straßen mit hohen Häusern und leb¬
haftem Verkehr, dichtgedrängt um die ehrwürdige Mctropolitankirche des Erz-
bisthums München-Freisina. zu unsrer lieben Frau, einem gothischen, aus dem
fünfzehnten Jahrhundert stammenden Backsteinbau, dessen zwei abgestumpfte
Thürme weithin sichtbar sind. Dieses alte München steht im richtigen Ver¬
hältniß zu der Größe und den Mitteln des Landes: es ist die bescheidene Haupt¬
stadt eines Königreichs von bescheidner Größe. Natürlich wurden, wie in an¬
dern Städten, auch hier Erweiterungen nothwendig; aber jene neuen Quartiere,
die. wie mit Dampf getrieben, sich plötzlich erhoben haben, gehen weit über
das vorhandene Bedürfniß hinaus. Das seit den dreißiger Jahren entstan¬
dene Neumünchen, wodurch die Altstadt ganz in Schatten gestellt worden und
dem Krämer und Handwerker anheim gefallen ist, hat eine sehr vornehme
Miene angenommen, als wollte es sagen: Seht die Hauptstadt des Großstaates
Bayern! Leider aber haben seine Straßen kein Pflaster, und man wird unwill¬
kürlich an einen Kavalier in reichgestickten Rock erinnert, der zerrissene Stiefel
trägt. Ueberdies herrscht dort wenig Leben, und die sechzig Schritt breite
Ludwigsstraße mit ihrem geringen Verkehr läßt sich ganz wohl mit dem breiten
Bett eines Stroms vergleichen, durch das ein dünnes Bächlein sickert. Welch
ein Unterschied gegen die menschenwimmelnde Kaiserstadt an der" Donau, von
der wir unten handeln werden! Wien ist ein Mann, dem es zu eng in seiner
Jacke geworden ist, das neue München ein Junge im Consirmandenkleid, das


dortigen Männerturnvcreine eine darauf zielende öffentliche Erklärung erlassen
und fordert andere Turnvereine aus, sich derselben anzuschließen.




Reiseeindrücke ans München und Wien.

Sind Wien, Berlin, Dresden, Köln und die meisten andern Großstädte
Deutschlands organische Gebilde, die in Folge eines natürlichen Wachsthums
und geschichtlichen Verlaufes das geworden sind, was sie sind: so gilt von der
Hauptstadt Bayerns das gerade Gegentheil: sie ist nicht geworden, sondern
gemacht. Es gibt zwar neben dem neuen München, das fast allein die Auf¬
merksamkeit des Fremden auf sich zieht, auch ein altes München, das er um
irgend eines alten Gebäudes willen, oder weil ihn sein Weg hindurch führt,
nebenher in Augenschein nimmt: enge Straßen mit hohen Häusern und leb¬
haftem Verkehr, dichtgedrängt um die ehrwürdige Mctropolitankirche des Erz-
bisthums München-Freisina. zu unsrer lieben Frau, einem gothischen, aus dem
fünfzehnten Jahrhundert stammenden Backsteinbau, dessen zwei abgestumpfte
Thürme weithin sichtbar sind. Dieses alte München steht im richtigen Ver¬
hältniß zu der Größe und den Mitteln des Landes: es ist die bescheidene Haupt¬
stadt eines Königreichs von bescheidner Größe. Natürlich wurden, wie in an¬
dern Städten, auch hier Erweiterungen nothwendig; aber jene neuen Quartiere,
die. wie mit Dampf getrieben, sich plötzlich erhoben haben, gehen weit über
das vorhandene Bedürfniß hinaus. Das seit den dreißiger Jahren entstan¬
dene Neumünchen, wodurch die Altstadt ganz in Schatten gestellt worden und
dem Krämer und Handwerker anheim gefallen ist, hat eine sehr vornehme
Miene angenommen, als wollte es sagen: Seht die Hauptstadt des Großstaates
Bayern! Leider aber haben seine Straßen kein Pflaster, und man wird unwill¬
kürlich an einen Kavalier in reichgestickten Rock erinnert, der zerrissene Stiefel
trägt. Ueberdies herrscht dort wenig Leben, und die sechzig Schritt breite
Ludwigsstraße mit ihrem geringen Verkehr läßt sich ganz wohl mit dem breiten
Bett eines Stroms vergleichen, durch das ein dünnes Bächlein sickert. Welch
ein Unterschied gegen die menschenwimmelnde Kaiserstadt an der" Donau, von
der wir unten handeln werden! Wien ist ein Mann, dem es zu eng in seiner
Jacke geworden ist, das neue München ein Junge im Consirmandenkleid, das


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[0310] dortigen Männerturnvcreine eine darauf zielende öffentliche Erklärung erlassen und fordert andere Turnvereine aus, sich derselben anzuschließen. Reiseeindrücke ans München und Wien. Sind Wien, Berlin, Dresden, Köln und die meisten andern Großstädte Deutschlands organische Gebilde, die in Folge eines natürlichen Wachsthums und geschichtlichen Verlaufes das geworden sind, was sie sind: so gilt von der Hauptstadt Bayerns das gerade Gegentheil: sie ist nicht geworden, sondern gemacht. Es gibt zwar neben dem neuen München, das fast allein die Auf¬ merksamkeit des Fremden auf sich zieht, auch ein altes München, das er um irgend eines alten Gebäudes willen, oder weil ihn sein Weg hindurch führt, nebenher in Augenschein nimmt: enge Straßen mit hohen Häusern und leb¬ haftem Verkehr, dichtgedrängt um die ehrwürdige Mctropolitankirche des Erz- bisthums München-Freisina. zu unsrer lieben Frau, einem gothischen, aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammenden Backsteinbau, dessen zwei abgestumpfte Thürme weithin sichtbar sind. Dieses alte München steht im richtigen Ver¬ hältniß zu der Größe und den Mitteln des Landes: es ist die bescheidene Haupt¬ stadt eines Königreichs von bescheidner Größe. Natürlich wurden, wie in an¬ dern Städten, auch hier Erweiterungen nothwendig; aber jene neuen Quartiere, die. wie mit Dampf getrieben, sich plötzlich erhoben haben, gehen weit über das vorhandene Bedürfniß hinaus. Das seit den dreißiger Jahren entstan¬ dene Neumünchen, wodurch die Altstadt ganz in Schatten gestellt worden und dem Krämer und Handwerker anheim gefallen ist, hat eine sehr vornehme Miene angenommen, als wollte es sagen: Seht die Hauptstadt des Großstaates Bayern! Leider aber haben seine Straßen kein Pflaster, und man wird unwill¬ kürlich an einen Kavalier in reichgestickten Rock erinnert, der zerrissene Stiefel trägt. Ueberdies herrscht dort wenig Leben, und die sechzig Schritt breite Ludwigsstraße mit ihrem geringen Verkehr läßt sich ganz wohl mit dem breiten Bett eines Stroms vergleichen, durch das ein dünnes Bächlein sickert. Welch ein Unterschied gegen die menschenwimmelnde Kaiserstadt an der" Donau, von der wir unten handeln werden! Wien ist ein Mann, dem es zu eng in seiner Jacke geworden ist, das neue München ein Junge im Consirmandenkleid, das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/310>, abgerufen am 03.05.2024.