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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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Leipzig, im December 1"!>9. , Fv. Ludw. .Herbig.

Neue Romane.

Berthold Auerbach: Joseph im Schnee. Eine Erzählung. Stutt¬
gart. Cotta. -- Die Stichworte "Realismus" und "Idealismus" werden in
unsern ästhetischen Lehrbüchern und Zeitschriften noch immer so ungenau ver¬
wendet, daß es nicht unnütz ist, von Zeit zu Zeit wieder darauf zurück¬
zukommen. -- Die Formel, nach der beide Begriffe ihre Berechtigung finden,
haben wir schon seit längerer Zeit festgestellt. Der Zweck der Kunst, nament¬
lich der Dichtkunst, ist, Ideale aufzustellen, d. h. Gestalten und Geschichten,
deren Realität man wünschen muß. weil sie uns erheben, begeistern, ergötzen,
belustigen u. s. w.; das Mittel der Kunst ist der Realismus, d. h., eine
der Natur abgelauschte Wahrheit, die uns überzeugt, so daß wir an die künst¬
lerischen Ideale glauben. -- Dies Gesetz gilt für jede Form der Dichtkunst,
für jede Zeit, und classisch wird derjenige Dichter sein, der in seinen Werken
allgemein menschliche Ideale, d. h. echten bleibenden Lebensgehalt darstellt,
und der diese Ideale so darzustellen weiß, daß jede Zeit an ihre Realität
glaubt. Je schärfer der Blick eines Dichters für das Wesentliche des Geistes
ist, je mehr er von dem Zufälligen und Unwesentlichen seiner Zeit zu ab-
strahiren weiß, desto classischer wird er sein, d. h. desto länger wird er dem
Menschengeschlecht verständlich und werth bleiben. -- Um ein classischer Dich¬
ter zu werden, reicht aber die große Begabung allein nicht aus: die Zeit, in
der er lebt, muß ihm wirklichen, echten Lebensgehalt bieten, und zugleich den
Stoff, in dem er denselben darstellen kann, d. h. eine bis auf einen gewissen
Grad entwickelte Sprache. -- Wo das eine oder das andere fehlt, wo der
Dichter entweder den echten Lebensgehalt erst mühsam suchen, wohl gar aus
fremden Anschauungen entlehnen, oder wo er sich die poetische Sprache erst
mühsam erkämpfen muß, werden immer nur Dichter zweiten Ranges hervor¬
gehn, d. h. Dichter, deren Arbeit von einer weiter entwickelten Bildung in
ihre Elemente aufgelöst, und damit als nicht ursprünglicher Schöpferkraft an¬
gehörig betrachtet werden kann. -- So haben wir das "classische Zeitalter"
der Römer an Bildung überholt, und weil sein Inhalt nicht aus der Natur-
kraft des Volks geschöpft, sondern einer fremden Bildung entlehnt war, so


Grenzboten IV. 1L60. 61

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gart. Cotta. — Die Stichworte „Realismus" und „Idealismus" werden in
unsern ästhetischen Lehrbüchern und Zeitschriften noch immer so ungenau ver¬
wendet, daß es nicht unnütz ist, von Zeit zu Zeit wieder darauf zurück¬
zukommen. — Die Formel, nach der beide Begriffe ihre Berechtigung finden,
haben wir schon seit längerer Zeit festgestellt. Der Zweck der Kunst, nament¬
lich der Dichtkunst, ist, Ideale aufzustellen, d. h. Gestalten und Geschichten,
deren Realität man wünschen muß. weil sie uns erheben, begeistern, ergötzen,
belustigen u. s. w.; das Mittel der Kunst ist der Realismus, d. h., eine
der Natur abgelauschte Wahrheit, die uns überzeugt, so daß wir an die künst¬
lerischen Ideale glauben. — Dies Gesetz gilt für jede Form der Dichtkunst,
für jede Zeit, und classisch wird derjenige Dichter sein, der in seinen Werken
allgemein menschliche Ideale, d. h. echten bleibenden Lebensgehalt darstellt,
und der diese Ideale so darzustellen weiß, daß jede Zeit an ihre Realität
glaubt. Je schärfer der Blick eines Dichters für das Wesentliche des Geistes
ist, je mehr er von dem Zufälligen und Unwesentlichen seiner Zeit zu ab-
strahiren weiß, desto classischer wird er sein, d. h. desto länger wird er dem
Menschengeschlecht verständlich und werth bleiben. — Um ein classischer Dich¬
ter zu werden, reicht aber die große Begabung allein nicht aus: die Zeit, in
der er lebt, muß ihm wirklichen, echten Lebensgehalt bieten, und zugleich den
Stoff, in dem er denselben darstellen kann, d. h. eine bis auf einen gewissen
Grad entwickelte Sprache. — Wo das eine oder das andere fehlt, wo der
Dichter entweder den echten Lebensgehalt erst mühsam suchen, wohl gar aus
fremden Anschauungen entlehnen, oder wo er sich die poetische Sprache erst
mühsam erkämpfen muß, werden immer nur Dichter zweiten Ranges hervor¬
gehn, d. h. Dichter, deren Arbeit von einer weiter entwickelten Bildung in
ihre Elemente aufgelöst, und damit als nicht ursprünglicher Schöpferkraft an¬
gehörig betrachtet werden kann. — So haben wir das „classische Zeitalter"
der Römer an Bildung überholt, und weil sein Inhalt nicht aus der Natur-
kraft des Volks geschöpft, sondern einer fremden Bildung entlehnt war, so


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/493>, abgerufen am 04.05.2024.