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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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Unterhaltung ist sie noch zu wenig gebildet, noch hat der Glanz eines reichen
Humors sie nicht verklärt, noch ist sie arm im Ausdruck des charakterisirenden
Details und weniger gewandt im epigrammatischen Ausdruck als sie vor drei
Jahrhunderten war. Was ihr fehlt, tan" ihr freilich nicht vorzugsweise durch
Sprachgelehrsamkeit und philosophische Sorgfalt gegeben werden, denn nur
derjenige neue Fund wird in ihr lebendig bleiben, der keck und frisch aus
schöpferischer Seele quillt. Aber lernen soll deshalb doch jeder an seiner Sprache,
und zu dem, was die Amme und die Kinderzeit in die Seele gebildet haben,
und später der Verkehr mit Andern und das Lesen gischriebner Bücher, soll
man seiner Sprache mächtig zu weiden suchen auch durch den Sprachschatz,
welchen Wörterbücher und die Schriftsteller früherer Zeit uns überliefern. Schnell
wird dann, was dem eignen Wesen dient, durch die gesunde Kraft des Schrift¬
stellers so reproducirt werden, daß es als eigne Habe und Bereicherung des
vorhandenen Sprachgutes erscheint. Auch zu diesem Zweck wird Grimms
Wörterbuch geschrieben. Und mit herzlichem Antheil möge der Leser sich in
die Seele des Gelehrten versetzen, dem die unendliche Habe seines Volks, welche
sich seit zweitausend Jahren entwickelt bat, während seiner Arbeit in einer Weise
durch die Seele zieht, wie das bis jetzt noch me bei einem einzelnen Mensche"
der Fall war.




Von der preußischen Grenze.

Indem Preußen sich anschickt, die warschauer Konferenz zu besuchen, aus wel¬
cher eine neue Gruppirung der europäischen Politik hervorgehn soll, dürfte es
zeitgemäß sein, über die Kräfte und Interessen, welche die verschiedenen Staaten
einzusetzen haben, eine Bilanz zu ziehen.

Was im Einzelnen in Warschau besprochen werden soll, ist uns nicht bekannt;
über die Richtung der Cvnfereoz im allgemeinen aber kann kein Zweifel obwalten.
Wenn zwischen Nußland, Oestreich, Preußen und de" deutschen Mittclstciatcn eine
Verständigung zu Stande kommt, so kann die Spitze derselben nur lgegen Frank¬
reich gerichtet sein und mit mehr oder minder Consequenz zu den Grundsätzen der
heilige" Allianz zurückführen. Denn Oestreich kann keine andere Allianz gebrauchen,
als eine solche, welche ihm das neue Königreich Italien niederschlagen und ihm da¬
durch die ungeheuern Ausgaben der beständigen Kriegsbereitschaft mildern hilft.

Durch die Unklarheit der deutschen Politik ist Nußland diplomatisch wieder ans
eine Höhe gestellt, die seinen Machtverhältnissen nicht im mindesten entspricht. Wir
wisse", daß seit Beendigung des Krimfcldzugs seine Armee in beständiger Reduction
begriffen ist, einer Redaction, die sich aus dem gänzlichen Ruin seiner Finanzen er¬
klärt; wir wissen, daß überall die bedenklichste" Unruhen in der Bauernschaft bcvor-
stehn, daß die Regierung sich in der völligster Rathlosigkeit befindet und daß der
moralische Aufschwung des Nationalgefühls, den Kaiser Nikolaus künstlich bei seinem
Volk hervorgebracht, so gut wie vcrrnncht ist. Positive Interesse" bei einem Kriege ge-
jZ"> Fxai^kreich hat Nußland fast gar keine, wenn man nicht etwa die Besorgniß


Unterhaltung ist sie noch zu wenig gebildet, noch hat der Glanz eines reichen
Humors sie nicht verklärt, noch ist sie arm im Ausdruck des charakterisirenden
Details und weniger gewandt im epigrammatischen Ausdruck als sie vor drei
Jahrhunderten war. Was ihr fehlt, tan» ihr freilich nicht vorzugsweise durch
Sprachgelehrsamkeit und philosophische Sorgfalt gegeben werden, denn nur
derjenige neue Fund wird in ihr lebendig bleiben, der keck und frisch aus
schöpferischer Seele quillt. Aber lernen soll deshalb doch jeder an seiner Sprache,
und zu dem, was die Amme und die Kinderzeit in die Seele gebildet haben,
und später der Verkehr mit Andern und das Lesen gischriebner Bücher, soll
man seiner Sprache mächtig zu weiden suchen auch durch den Sprachschatz,
welchen Wörterbücher und die Schriftsteller früherer Zeit uns überliefern. Schnell
wird dann, was dem eignen Wesen dient, durch die gesunde Kraft des Schrift¬
stellers so reproducirt werden, daß es als eigne Habe und Bereicherung des
vorhandenen Sprachgutes erscheint. Auch zu diesem Zweck wird Grimms
Wörterbuch geschrieben. Und mit herzlichem Antheil möge der Leser sich in
die Seele des Gelehrten versetzen, dem die unendliche Habe seines Volks, welche
sich seit zweitausend Jahren entwickelt bat, während seiner Arbeit in einer Weise
durch die Seele zieht, wie das bis jetzt noch me bei einem einzelnen Mensche»
der Fall war.




Von der preußischen Grenze.

Indem Preußen sich anschickt, die warschauer Konferenz zu besuchen, aus wel¬
cher eine neue Gruppirung der europäischen Politik hervorgehn soll, dürfte es
zeitgemäß sein, über die Kräfte und Interessen, welche die verschiedenen Staaten
einzusetzen haben, eine Bilanz zu ziehen.

Was im Einzelnen in Warschau besprochen werden soll, ist uns nicht bekannt;
über die Richtung der Cvnfereoz im allgemeinen aber kann kein Zweifel obwalten.
Wenn zwischen Nußland, Oestreich, Preußen und de» deutschen Mittclstciatcn eine
Verständigung zu Stande kommt, so kann die Spitze derselben nur lgegen Frank¬
reich gerichtet sein und mit mehr oder minder Consequenz zu den Grundsätzen der
heilige» Allianz zurückführen. Denn Oestreich kann keine andere Allianz gebrauchen,
als eine solche, welche ihm das neue Königreich Italien niederschlagen und ihm da¬
durch die ungeheuern Ausgaben der beständigen Kriegsbereitschaft mildern hilft.

Durch die Unklarheit der deutschen Politik ist Nußland diplomatisch wieder ans
eine Höhe gestellt, die seinen Machtverhältnissen nicht im mindesten entspricht. Wir
wisse», daß seit Beendigung des Krimfcldzugs seine Armee in beständiger Reduction
begriffen ist, einer Redaction, die sich aus dem gänzlichen Ruin seiner Finanzen er¬
klärt; wir wissen, daß überall die bedenklichste» Unruhen in der Bauernschaft bcvor-
stehn, daß die Regierung sich in der völligster Rathlosigkeit befindet und daß der
moralische Aufschwung des Nationalgefühls, den Kaiser Nikolaus künstlich bei seinem
Volk hervorgebracht, so gut wie vcrrnncht ist. Positive Interesse» bei einem Kriege ge-
jZ"> Fxai^kreich hat Nußland fast gar keine, wenn man nicht etwa die Besorgniß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/88>, abgerufen am 03.05.2024.