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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Neue Bücher über die erste Theilung Polens.

Es ließ sich voraussehen, daß bei dem allgemeinen Streben der Natio¬
nalitäten, sich im europäischen Völkerrecht Geltung zu "verschaffen, die Polen
nicht zurückbleiben würden. Sie haben seit den dreißiger Jahren diese Be¬
wegung geleitet, sie waren als Virtuosen des Nationalitätsprincips --'der
Ausdruck soll nicht ironisch sein -- an allen Theilen der Erde geschäftig, die
Befreiung fremder Nationalitäten zu unterstützen, um mittelbar dadurch ihre
eigene zu fördern; polnische Offiziere haben sich früher schon in Italien. 1849
auch in Ungarn betheiligt; es ist begreiflich, daß sie jetzt, da die Sache in
Italien und Ungarn eine günstige Wendung zu nehmen scheint, ihrerseits mit
ihren Lieblingswünschen hervortreten.

Wir haben die Berechtigung jenes Princips anerkannt; wir haben mehr¬
fach die Ueberzeugung ausgesprochen, daß wir es für das mächtigste von
allen Motiven halten, durch welche gegenwärtig die Bewegung der Geschichte
bestimmt wird. Es kann uns nicht einfallen, den.Polen streitig zu macheu,
was wir für uns in Anspruch nehmen, was wir bei den Italienern gelten
lassen. Daß Polen in der Periode, wo es einen unabhängigen Staat bil¬
dete, äußerst schlecht regiert wurde, daß es durch eigene Schuld seine Freiheit
verlor, genügt noch nicht, um die Möglichkeit abzuleugnen, daß es in der
Zukunft damit besser werden könne. Deutschland, Italien u. s. w. sind auch
sehr schlecht regiert worden. Wäre es möglich, einen geordneten polnischen
Staat, wie er durch die Verfassung von 1791 erstrebt wurde, als Mittelstaat
"wischen Deutschland und Rußland herzustellen, so würden wir es als ein
Glück für Europa betrachten.

Nur eins müssen wir uns' ausbedingen. Indem wir den Wunsch nach
einem Königreich Polen im Allgemeinen als berechtigt anerkennen, fühlen wir
uns damit keineswegs verpflichtet, allen Forderungen beizutreten, die etwa
die Polen aufstellen mögen. Vieles von dem, was sie fordern, ist absolut
verwerflich; in andern Punkten besteht ein Conflict berechtigter Interessen,
der nicht einseitig entschieden werden kann. Namentlich ist eine Nation,
die sich zu constituiren wünscht, deshalb noch nicht berechtigt, mit Eroberungen


<"renzl'oder II, 1861. 16
Neue Bücher über die erste Theilung Polens.

Es ließ sich voraussehen, daß bei dem allgemeinen Streben der Natio¬
nalitäten, sich im europäischen Völkerrecht Geltung zu "verschaffen, die Polen
nicht zurückbleiben würden. Sie haben seit den dreißiger Jahren diese Be¬
wegung geleitet, sie waren als Virtuosen des Nationalitätsprincips —'der
Ausdruck soll nicht ironisch sein — an allen Theilen der Erde geschäftig, die
Befreiung fremder Nationalitäten zu unterstützen, um mittelbar dadurch ihre
eigene zu fördern; polnische Offiziere haben sich früher schon in Italien. 1849
auch in Ungarn betheiligt; es ist begreiflich, daß sie jetzt, da die Sache in
Italien und Ungarn eine günstige Wendung zu nehmen scheint, ihrerseits mit
ihren Lieblingswünschen hervortreten.

Wir haben die Berechtigung jenes Princips anerkannt; wir haben mehr¬
fach die Ueberzeugung ausgesprochen, daß wir es für das mächtigste von
allen Motiven halten, durch welche gegenwärtig die Bewegung der Geschichte
bestimmt wird. Es kann uns nicht einfallen, den.Polen streitig zu macheu,
was wir für uns in Anspruch nehmen, was wir bei den Italienern gelten
lassen. Daß Polen in der Periode, wo es einen unabhängigen Staat bil¬
dete, äußerst schlecht regiert wurde, daß es durch eigene Schuld seine Freiheit
verlor, genügt noch nicht, um die Möglichkeit abzuleugnen, daß es in der
Zukunft damit besser werden könne. Deutschland, Italien u. s. w. sind auch
sehr schlecht regiert worden. Wäre es möglich, einen geordneten polnischen
Staat, wie er durch die Verfassung von 1791 erstrebt wurde, als Mittelstaat
»wischen Deutschland und Rußland herzustellen, so würden wir es als ein
Glück für Europa betrachten.

Nur eins müssen wir uns' ausbedingen. Indem wir den Wunsch nach
einem Königreich Polen im Allgemeinen als berechtigt anerkennen, fühlen wir
uns damit keineswegs verpflichtet, allen Forderungen beizutreten, die etwa
die Polen aufstellen mögen. Vieles von dem, was sie fordern, ist absolut
verwerflich; in andern Punkten besteht ein Conflict berechtigter Interessen,
der nicht einseitig entschieden werden kann. Namentlich ist eine Nation,
die sich zu constituiren wünscht, deshalb noch nicht berechtigt, mit Eroberungen


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[0131] Neue Bücher über die erste Theilung Polens. Es ließ sich voraussehen, daß bei dem allgemeinen Streben der Natio¬ nalitäten, sich im europäischen Völkerrecht Geltung zu "verschaffen, die Polen nicht zurückbleiben würden. Sie haben seit den dreißiger Jahren diese Be¬ wegung geleitet, sie waren als Virtuosen des Nationalitätsprincips —'der Ausdruck soll nicht ironisch sein — an allen Theilen der Erde geschäftig, die Befreiung fremder Nationalitäten zu unterstützen, um mittelbar dadurch ihre eigene zu fördern; polnische Offiziere haben sich früher schon in Italien. 1849 auch in Ungarn betheiligt; es ist begreiflich, daß sie jetzt, da die Sache in Italien und Ungarn eine günstige Wendung zu nehmen scheint, ihrerseits mit ihren Lieblingswünschen hervortreten. Wir haben die Berechtigung jenes Princips anerkannt; wir haben mehr¬ fach die Ueberzeugung ausgesprochen, daß wir es für das mächtigste von allen Motiven halten, durch welche gegenwärtig die Bewegung der Geschichte bestimmt wird. Es kann uns nicht einfallen, den.Polen streitig zu macheu, was wir für uns in Anspruch nehmen, was wir bei den Italienern gelten lassen. Daß Polen in der Periode, wo es einen unabhängigen Staat bil¬ dete, äußerst schlecht regiert wurde, daß es durch eigene Schuld seine Freiheit verlor, genügt noch nicht, um die Möglichkeit abzuleugnen, daß es in der Zukunft damit besser werden könne. Deutschland, Italien u. s. w. sind auch sehr schlecht regiert worden. Wäre es möglich, einen geordneten polnischen Staat, wie er durch die Verfassung von 1791 erstrebt wurde, als Mittelstaat »wischen Deutschland und Rußland herzustellen, so würden wir es als ein Glück für Europa betrachten. Nur eins müssen wir uns' ausbedingen. Indem wir den Wunsch nach einem Königreich Polen im Allgemeinen als berechtigt anerkennen, fühlen wir uns damit keineswegs verpflichtet, allen Forderungen beizutreten, die etwa die Polen aufstellen mögen. Vieles von dem, was sie fordern, ist absolut verwerflich; in andern Punkten besteht ein Conflict berechtigter Interessen, der nicht einseitig entschieden werden kann. Namentlich ist eine Nation, die sich zu constituiren wünscht, deshalb noch nicht berechtigt, mit Eroberungen <«renzl'oder II, 1861. 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/131>, abgerufen am 05.05.2024.