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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Das Schaffen des dramatischen Dichters.
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Die Charaktere aus der Bühne.

Die poetische Kraft des dramatischen Dichters erweist sich am unmittel¬
barsten in Erfindung der Charaktere. Beim Aufbau der Handlung, der Ein¬
richtung für die Bühne helfen andere Eigenschaften, eine sichere Bildung, ein
männlicher Zug in der eigenen Natur, gute Schule und Erfahrung; wo aber
die Fähigkeit, zu charakterisiren, gering ist, wird vielleicht ein bühnengerechtes,
nie ein bedeutendes Werk geschaffen werden. Macht dagegen eigenthümliche
Erfindung die einzelnen Rollen'interessant, da darf man gute Hoffnung hegen,
wenn auch das Zusammenwirken der Gestalten zum Gesammtbilde noch sehr
mangelhaft ist. Deshalb ist gerade bei diesem Theile des künstlerischen Schaf¬
fens durch Regeln weniger zu helfen, als bei jedem andern. Doch soll hier
an Einiges erinnert werden.

Jeder Charakter des Dramas soll die Grundzüge seines Wesens so schnell
als möglich dem Publicum deutlich und interessant zeigen; auch wo eine Kunst¬
wirkung in verdecktem Spiele einzelner Rollen liegt, muß der Hörer bis zu
einem gewissen Grade Vertrauter des Dichters werden. -- Je später im Verlauf
der Handlung ein neuer Charakterzug zu Tage kommt, desto sorgfältiger muß
er schon im Anfange motivirt werden, damit der Zuschauer das überraschende
Neue mit dem vollen Behagen genieße, daß es der Anlage des Charakters
doch vollständig entspreche. -- Der Anfang des Stückes, an welchem die Fähig¬
keit des Publicums, aufzunehmen, am größten und unbefangensten ist, wird
selbstverständlich der Raum, wo die Charaktere sich zu expliciren haben. Auch
hier sind kurze Striche Regel, es versteht sich von selbst, daß das charak¬
teristische Detail nicht anekdotenhaft, sondern mit der Handlung verwebt
zu Tage kommen muß, ausnahmsweise sind hier kleine Episoden, eine be¬
scheidene Situationsmalerei erlaubt. -- Die Scenen des Anfangs, welche das
Grundgewebe der Helden darlegen, sollen zugleich die Farbe des Stückes
angeben, die Stimmung vorbereiten. Mit ganz ausgezeichneter Kunst ver¬
fährt dabei Shakespeare. Er läßt gern seine Helden, bevor sie in die Befangen¬
heit der tragischen Handlung hineingeführt werden, in einer Eröffnungsscene,
welche die Grundtöne des ganzen Stücks wie eine Ouvertüre anzeigt, den Zug ihres
Wesens noch unbefangen aussprechen. Romeo hat sogar zwei solche Scenen, er
zeigt bei dem Parteikampf auf der Straße die vornehme Haltung einer milden
Natur, in der darauf folgenden Unterhaltung mit den Freunden den liebe¬
suchenden Träumer. Man vergleiche damit den Feldherrn Macbeth in wilder


Das Schaffen des dramatischen Dichters.
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Die Charaktere aus der Bühne.

Die poetische Kraft des dramatischen Dichters erweist sich am unmittel¬
barsten in Erfindung der Charaktere. Beim Aufbau der Handlung, der Ein¬
richtung für die Bühne helfen andere Eigenschaften, eine sichere Bildung, ein
männlicher Zug in der eigenen Natur, gute Schule und Erfahrung; wo aber
die Fähigkeit, zu charakterisiren, gering ist, wird vielleicht ein bühnengerechtes,
nie ein bedeutendes Werk geschaffen werden. Macht dagegen eigenthümliche
Erfindung die einzelnen Rollen'interessant, da darf man gute Hoffnung hegen,
wenn auch das Zusammenwirken der Gestalten zum Gesammtbilde noch sehr
mangelhaft ist. Deshalb ist gerade bei diesem Theile des künstlerischen Schaf¬
fens durch Regeln weniger zu helfen, als bei jedem andern. Doch soll hier
an Einiges erinnert werden.

Jeder Charakter des Dramas soll die Grundzüge seines Wesens so schnell
als möglich dem Publicum deutlich und interessant zeigen; auch wo eine Kunst¬
wirkung in verdecktem Spiele einzelner Rollen liegt, muß der Hörer bis zu
einem gewissen Grade Vertrauter des Dichters werden. — Je später im Verlauf
der Handlung ein neuer Charakterzug zu Tage kommt, desto sorgfältiger muß
er schon im Anfange motivirt werden, damit der Zuschauer das überraschende
Neue mit dem vollen Behagen genieße, daß es der Anlage des Charakters
doch vollständig entspreche. — Der Anfang des Stückes, an welchem die Fähig¬
keit des Publicums, aufzunehmen, am größten und unbefangensten ist, wird
selbstverständlich der Raum, wo die Charaktere sich zu expliciren haben. Auch
hier sind kurze Striche Regel, es versteht sich von selbst, daß das charak¬
teristische Detail nicht anekdotenhaft, sondern mit der Handlung verwebt
zu Tage kommen muß, ausnahmsweise sind hier kleine Episoden, eine be¬
scheidene Situationsmalerei erlaubt. — Die Scenen des Anfangs, welche das
Grundgewebe der Helden darlegen, sollen zugleich die Farbe des Stückes
angeben, die Stimmung vorbereiten. Mit ganz ausgezeichneter Kunst ver¬
fährt dabei Shakespeare. Er läßt gern seine Helden, bevor sie in die Befangen¬
heit der tragischen Handlung hineingeführt werden, in einer Eröffnungsscene,
welche die Grundtöne des ganzen Stücks wie eine Ouvertüre anzeigt, den Zug ihres
Wesens noch unbefangen aussprechen. Romeo hat sogar zwei solche Scenen, er
zeigt bei dem Parteikampf auf der Straße die vornehme Haltung einer milden
Natur, in der darauf folgenden Unterhaltung mit den Freunden den liebe¬
suchenden Träumer. Man vergleiche damit den Feldherrn Macbeth in wilder


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[0190] Das Schaffen des dramatischen Dichters. .l?K->ee^v^.^..u..->.et! Die Charaktere aus der Bühne. Die poetische Kraft des dramatischen Dichters erweist sich am unmittel¬ barsten in Erfindung der Charaktere. Beim Aufbau der Handlung, der Ein¬ richtung für die Bühne helfen andere Eigenschaften, eine sichere Bildung, ein männlicher Zug in der eigenen Natur, gute Schule und Erfahrung; wo aber die Fähigkeit, zu charakterisiren, gering ist, wird vielleicht ein bühnengerechtes, nie ein bedeutendes Werk geschaffen werden. Macht dagegen eigenthümliche Erfindung die einzelnen Rollen'interessant, da darf man gute Hoffnung hegen, wenn auch das Zusammenwirken der Gestalten zum Gesammtbilde noch sehr mangelhaft ist. Deshalb ist gerade bei diesem Theile des künstlerischen Schaf¬ fens durch Regeln weniger zu helfen, als bei jedem andern. Doch soll hier an Einiges erinnert werden. Jeder Charakter des Dramas soll die Grundzüge seines Wesens so schnell als möglich dem Publicum deutlich und interessant zeigen; auch wo eine Kunst¬ wirkung in verdecktem Spiele einzelner Rollen liegt, muß der Hörer bis zu einem gewissen Grade Vertrauter des Dichters werden. — Je später im Verlauf der Handlung ein neuer Charakterzug zu Tage kommt, desto sorgfältiger muß er schon im Anfange motivirt werden, damit der Zuschauer das überraschende Neue mit dem vollen Behagen genieße, daß es der Anlage des Charakters doch vollständig entspreche. — Der Anfang des Stückes, an welchem die Fähig¬ keit des Publicums, aufzunehmen, am größten und unbefangensten ist, wird selbstverständlich der Raum, wo die Charaktere sich zu expliciren haben. Auch hier sind kurze Striche Regel, es versteht sich von selbst, daß das charak¬ teristische Detail nicht anekdotenhaft, sondern mit der Handlung verwebt zu Tage kommen muß, ausnahmsweise sind hier kleine Episoden, eine be¬ scheidene Situationsmalerei erlaubt. — Die Scenen des Anfangs, welche das Grundgewebe der Helden darlegen, sollen zugleich die Farbe des Stückes angeben, die Stimmung vorbereiten. Mit ganz ausgezeichneter Kunst ver¬ fährt dabei Shakespeare. Er läßt gern seine Helden, bevor sie in die Befangen¬ heit der tragischen Handlung hineingeführt werden, in einer Eröffnungsscene, welche die Grundtöne des ganzen Stücks wie eine Ouvertüre anzeigt, den Zug ihres Wesens noch unbefangen aussprechen. Romeo hat sogar zwei solche Scenen, er zeigt bei dem Parteikampf auf der Straße die vornehme Haltung einer milden Natur, in der darauf folgenden Unterhaltung mit den Freunden den liebe¬ suchenden Träumer. Man vergleiche damit den Feldherrn Macbeth in wilder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/190>, abgerufen am 04.05.2024.