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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Die bildende Kunst des 19. Jahrhunderts in Frankreich.
/ 10.
Die Zersplitterung der Genremalerei. Der neueste Realismus.
Die Landschaft.

Delaroche gilt gewöhnlich in der Kunstgeschichte als einer der Hauptver-
treter des modernen Realismus. Ein Wort, mit dem in neuerer Zeit kein
geringer Mißbrauch getrieben wird; die Grenzen des Begriffs werden bald
erweitert, bald enger gezogen. Versteht man darunter die Darstellung des
Lebens, welche einen geistigen Inhalt in wirklichen, d. h. in diesem Falle
in geschichtlichen Gestalten zur individuellen, farbenwarmen Erscheinung heraus¬
bildet, so ist Delaroche allerdings Realist. Aber der Realismus gibt sich
neuerdings für eine andere, ganz eigenthümliche Kunstform aus. In Frank¬
reich bezeichnet er -- es ist hier die Rede von der Figurenmalerei -- die ab.
sichtlich naturgrobe Auffassung der alltäglichen gemeinen Wirklichkeit; in
Deutschland tritt er als etwas verspäteter Nachtrab früherer französischer und
belgischer Versuche auf: er will wol Geschichte darstellen, aber der Vorgang
soll in der ganzen Breite natürlichen Geschehens und in körperhafter Sattheit
der Farbe erscheinen, Form und Bewegung der Gestalt dem zufälligen Mo¬
mente der derben, drangvollen Wirklichkeit abgelauscht sein. Diesem Realis¬
mus war Delaroche fremd; selbst da, wo es ihm auf spannende, schlagende
Wirkung ankam, strebte er nach der künstlerischen Vollendung, die ebenso-
Mol feine Ausführung als eine edle, an's Ideale anklingende Bildung des
Lebens voraussetzt. Und dies eben ist es, was er seinen Schülern zu über¬
liefern, diese sich von ihm anzueignen suchten.

Was die Darstellung geschichtlicher Motive betrifft, so war sein Beispiel
Mehr von einer allgemeinen Anregung, als daß er directe Nachfolger gehabt
hätte. Seine historischen Werke waren, wie wir gesehn, nicht eigentlich das,
Mas man geschichtliche Bilder nennt, nirgends ein großer Wendepunkt, in
dem ein Zeitalter zu entscheidender That und Gegcnthat sich zuspitzt. Wir
berühren hier die Frage nicht wieder, ob derartige Blitze der Geschichte über¬
haupt der bildenden Kunst Sache sind. Nach Delaroche's Vorgang trat die
historische Malerei in nur noch größerem Umfang auf: aber sie beschränkte
sich fast durchweg -- und hier zeigte sich die Einwirkung des Meisters -- auf
das geschichtliche Sittenbild, große Menschen in Ncbenbeziehungen und
zuständlichen Situationen, ergreifende Vorgänge aus Specialgeschichten, die
Anekdote, endlich rein genreartige Scenen aus historischen Episoden, in denen


Grenzboten IV. ISöl. 32
Die bildende Kunst des 19. Jahrhunderts in Frankreich.
/ 10.
Die Zersplitterung der Genremalerei. Der neueste Realismus.
Die Landschaft.

Delaroche gilt gewöhnlich in der Kunstgeschichte als einer der Hauptver-
treter des modernen Realismus. Ein Wort, mit dem in neuerer Zeit kein
geringer Mißbrauch getrieben wird; die Grenzen des Begriffs werden bald
erweitert, bald enger gezogen. Versteht man darunter die Darstellung des
Lebens, welche einen geistigen Inhalt in wirklichen, d. h. in diesem Falle
in geschichtlichen Gestalten zur individuellen, farbenwarmen Erscheinung heraus¬
bildet, so ist Delaroche allerdings Realist. Aber der Realismus gibt sich
neuerdings für eine andere, ganz eigenthümliche Kunstform aus. In Frank¬
reich bezeichnet er — es ist hier die Rede von der Figurenmalerei — die ab.
sichtlich naturgrobe Auffassung der alltäglichen gemeinen Wirklichkeit; in
Deutschland tritt er als etwas verspäteter Nachtrab früherer französischer und
belgischer Versuche auf: er will wol Geschichte darstellen, aber der Vorgang
soll in der ganzen Breite natürlichen Geschehens und in körperhafter Sattheit
der Farbe erscheinen, Form und Bewegung der Gestalt dem zufälligen Mo¬
mente der derben, drangvollen Wirklichkeit abgelauscht sein. Diesem Realis¬
mus war Delaroche fremd; selbst da, wo es ihm auf spannende, schlagende
Wirkung ankam, strebte er nach der künstlerischen Vollendung, die ebenso-
Mol feine Ausführung als eine edle, an's Ideale anklingende Bildung des
Lebens voraussetzt. Und dies eben ist es, was er seinen Schülern zu über¬
liefern, diese sich von ihm anzueignen suchten.

Was die Darstellung geschichtlicher Motive betrifft, so war sein Beispiel
Mehr von einer allgemeinen Anregung, als daß er directe Nachfolger gehabt
hätte. Seine historischen Werke waren, wie wir gesehn, nicht eigentlich das,
Mas man geschichtliche Bilder nennt, nirgends ein großer Wendepunkt, in
dem ein Zeitalter zu entscheidender That und Gegcnthat sich zuspitzt. Wir
berühren hier die Frage nicht wieder, ob derartige Blitze der Geschichte über¬
haupt der bildenden Kunst Sache sind. Nach Delaroche's Vorgang trat die
historische Malerei in nur noch größerem Umfang auf: aber sie beschränkte
sich fast durchweg — und hier zeigte sich die Einwirkung des Meisters — auf
das geschichtliche Sittenbild, große Menschen in Ncbenbeziehungen und
zuständlichen Situationen, ergreifende Vorgänge aus Specialgeschichten, die
Anekdote, endlich rein genreartige Scenen aus historischen Episoden, in denen


Grenzboten IV. ISöl. 32
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[0259] Die bildende Kunst des 19. Jahrhunderts in Frankreich. / 10. Die Zersplitterung der Genremalerei. Der neueste Realismus. Die Landschaft. Delaroche gilt gewöhnlich in der Kunstgeschichte als einer der Hauptver- treter des modernen Realismus. Ein Wort, mit dem in neuerer Zeit kein geringer Mißbrauch getrieben wird; die Grenzen des Begriffs werden bald erweitert, bald enger gezogen. Versteht man darunter die Darstellung des Lebens, welche einen geistigen Inhalt in wirklichen, d. h. in diesem Falle in geschichtlichen Gestalten zur individuellen, farbenwarmen Erscheinung heraus¬ bildet, so ist Delaroche allerdings Realist. Aber der Realismus gibt sich neuerdings für eine andere, ganz eigenthümliche Kunstform aus. In Frank¬ reich bezeichnet er — es ist hier die Rede von der Figurenmalerei — die ab. sichtlich naturgrobe Auffassung der alltäglichen gemeinen Wirklichkeit; in Deutschland tritt er als etwas verspäteter Nachtrab früherer französischer und belgischer Versuche auf: er will wol Geschichte darstellen, aber der Vorgang soll in der ganzen Breite natürlichen Geschehens und in körperhafter Sattheit der Farbe erscheinen, Form und Bewegung der Gestalt dem zufälligen Mo¬ mente der derben, drangvollen Wirklichkeit abgelauscht sein. Diesem Realis¬ mus war Delaroche fremd; selbst da, wo es ihm auf spannende, schlagende Wirkung ankam, strebte er nach der künstlerischen Vollendung, die ebenso- Mol feine Ausführung als eine edle, an's Ideale anklingende Bildung des Lebens voraussetzt. Und dies eben ist es, was er seinen Schülern zu über¬ liefern, diese sich von ihm anzueignen suchten. Was die Darstellung geschichtlicher Motive betrifft, so war sein Beispiel Mehr von einer allgemeinen Anregung, als daß er directe Nachfolger gehabt hätte. Seine historischen Werke waren, wie wir gesehn, nicht eigentlich das, Mas man geschichtliche Bilder nennt, nirgends ein großer Wendepunkt, in dem ein Zeitalter zu entscheidender That und Gegcnthat sich zuspitzt. Wir berühren hier die Frage nicht wieder, ob derartige Blitze der Geschichte über¬ haupt der bildenden Kunst Sache sind. Nach Delaroche's Vorgang trat die historische Malerei in nur noch größerem Umfang auf: aber sie beschränkte sich fast durchweg — und hier zeigte sich die Einwirkung des Meisters — auf das geschichtliche Sittenbild, große Menschen in Ncbenbeziehungen und zuständlichen Situationen, ergreifende Vorgänge aus Specialgeschichten, die Anekdote, endlich rein genreartige Scenen aus historischen Episoden, in denen Grenzboten IV. ISöl. 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/259>, abgerufen am 19.04.2024.