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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Berliner Briefe.

Die Wahlen klopfen an die Thür. Binnen vierzehn Tagen sollen die Wahl-
männer, am K. Decbr. die Abgeordneten gewählt werden. Im ganzen Lande ist
man jetzt eifrig damit beschäftigt, sich für den wichtigen Act zu rüsten; die Parteien
gruppiren sich; die Vorkämpfer entfalten ihre Fahnen, sammeln ihre Schaaren und
suchen auch die versprengten Glieder der Partei wieder an sich heranzuziehen, um
mit voller Stärke den Kampfplatz zu betreten. Die Bedeutung der Fragen, um
deren Entscheidung es sich handelt, ist Niemandem verborgen. Wo, wie in England,
durch jahrhundertelange Uebung die parlamentarischen Institutionen das gesammte
Leben durchdrungen haben, da kann man die Bedeutung einer neuen allgemeinen
Wahl so bezeichnen, daß durch sie die allgemeine politische Richtung des Landes
während der nächsten Wahlperiode im Wesentlichen bestimmt wird. Anders ist es
bei uns, hier greift die Bedeutung der Wahlen viel weiter. Wir haben erst eine
kurze Strecke auf der Bahn des Verfassungslcbens zurückgelegt; wir bewegen uns
noch mit unsicheren Schritten aus diesem Boden; die Institutionen, welche zum
Ausbau und zur Sicherung der Verfassung erforderlich sind, sind theils noch un¬
fertig und theils fehlen sie ganz; eine thätige und einflußreiche Parte! setzt alle
Mittel in Bewegung, um die Verfassung wie früher zu einer Lüge zu machen.
Der Ausfall der Wahlen wird also von entscheidender Bedeutung sein -- nicht
zwar für den Bestand der Verfassung, aber es wird doch von ihnen abhängen, ob
wir in der wenn auch langsamen doch stetigen Entwickelung, in der wir uns be¬
finden, fortschreiten werden, oder ob ein Rückschlag eintreten soll, dessen Stärke und
Dauer im Voraus gar nicht zu ermessen ist. In der nächsten Legislaturperiode
werden viel entscheidendere Fragen zum Austrag kommen, als in der jetzt abgelau¬
fenen. Um so mehr brauchen wir Volksvertreter von gereiften Ansichten und festem
Charakter; Schwächlinge von halbem Urtheil und halbem Willen können nichts nützen
und werden vielmehr gefährlich sein, weil sie den Krisen, die uns bevorstehen, nicht
gewachsen sein können.

Wie ganz verschieden von der heutigen war die Physiognomie, welche vor drei
Jahren das Land den Wahlen gegenüber zeigte? Damals war das neue Ministerium,
welches der Prinz-Regent bei der Uebernahme der Regierung berufen hatte, so eben
an die Spitze der Geschäfte getreten. Das Land, nach einer zehnjährigen Mißrcgie-
rung aus dem Schlamme der Lüge und der Korruption erlöst, athmete wieder frei
auf in der gesunden Luft einer redlichen, auf dem Boden der Verfassung stehenden
Verwaltung. Alle dem Feudalismus abgeneigten Schichten der bürgerlichen Gesell¬
schaft waren von unbedingter Hingebung an das Ministerium erfüllt. War doch
dieses aus den Führern derjenigen Partei gebildet, welche mit Einsicht, Ausdauer
und Zähigkeit das theure Pfand der Verfassung durch die zehnjährige Rcactionsperiode


Berliner Briefe.

Die Wahlen klopfen an die Thür. Binnen vierzehn Tagen sollen die Wahl-
männer, am K. Decbr. die Abgeordneten gewählt werden. Im ganzen Lande ist
man jetzt eifrig damit beschäftigt, sich für den wichtigen Act zu rüsten; die Parteien
gruppiren sich; die Vorkämpfer entfalten ihre Fahnen, sammeln ihre Schaaren und
suchen auch die versprengten Glieder der Partei wieder an sich heranzuziehen, um
mit voller Stärke den Kampfplatz zu betreten. Die Bedeutung der Fragen, um
deren Entscheidung es sich handelt, ist Niemandem verborgen. Wo, wie in England,
durch jahrhundertelange Uebung die parlamentarischen Institutionen das gesammte
Leben durchdrungen haben, da kann man die Bedeutung einer neuen allgemeinen
Wahl so bezeichnen, daß durch sie die allgemeine politische Richtung des Landes
während der nächsten Wahlperiode im Wesentlichen bestimmt wird. Anders ist es
bei uns, hier greift die Bedeutung der Wahlen viel weiter. Wir haben erst eine
kurze Strecke auf der Bahn des Verfassungslcbens zurückgelegt; wir bewegen uns
noch mit unsicheren Schritten aus diesem Boden; die Institutionen, welche zum
Ausbau und zur Sicherung der Verfassung erforderlich sind, sind theils noch un¬
fertig und theils fehlen sie ganz; eine thätige und einflußreiche Parte! setzt alle
Mittel in Bewegung, um die Verfassung wie früher zu einer Lüge zu machen.
Der Ausfall der Wahlen wird also von entscheidender Bedeutung sein — nicht
zwar für den Bestand der Verfassung, aber es wird doch von ihnen abhängen, ob
wir in der wenn auch langsamen doch stetigen Entwickelung, in der wir uns be¬
finden, fortschreiten werden, oder ob ein Rückschlag eintreten soll, dessen Stärke und
Dauer im Voraus gar nicht zu ermessen ist. In der nächsten Legislaturperiode
werden viel entscheidendere Fragen zum Austrag kommen, als in der jetzt abgelau¬
fenen. Um so mehr brauchen wir Volksvertreter von gereiften Ansichten und festem
Charakter; Schwächlinge von halbem Urtheil und halbem Willen können nichts nützen
und werden vielmehr gefährlich sein, weil sie den Krisen, die uns bevorstehen, nicht
gewachsen sein können.

Wie ganz verschieden von der heutigen war die Physiognomie, welche vor drei
Jahren das Land den Wahlen gegenüber zeigte? Damals war das neue Ministerium,
welches der Prinz-Regent bei der Uebernahme der Regierung berufen hatte, so eben
an die Spitze der Geschäfte getreten. Das Land, nach einer zehnjährigen Mißrcgie-
rung aus dem Schlamme der Lüge und der Korruption erlöst, athmete wieder frei
auf in der gesunden Luft einer redlichen, auf dem Boden der Verfassung stehenden
Verwaltung. Alle dem Feudalismus abgeneigten Schichten der bürgerlichen Gesell¬
schaft waren von unbedingter Hingebung an das Ministerium erfüllt. War doch
dieses aus den Führern derjenigen Partei gebildet, welche mit Einsicht, Ausdauer
und Zähigkeit das theure Pfand der Verfassung durch die zehnjährige Rcactionsperiode


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[0282] Berliner Briefe. Die Wahlen klopfen an die Thür. Binnen vierzehn Tagen sollen die Wahl- männer, am K. Decbr. die Abgeordneten gewählt werden. Im ganzen Lande ist man jetzt eifrig damit beschäftigt, sich für den wichtigen Act zu rüsten; die Parteien gruppiren sich; die Vorkämpfer entfalten ihre Fahnen, sammeln ihre Schaaren und suchen auch die versprengten Glieder der Partei wieder an sich heranzuziehen, um mit voller Stärke den Kampfplatz zu betreten. Die Bedeutung der Fragen, um deren Entscheidung es sich handelt, ist Niemandem verborgen. Wo, wie in England, durch jahrhundertelange Uebung die parlamentarischen Institutionen das gesammte Leben durchdrungen haben, da kann man die Bedeutung einer neuen allgemeinen Wahl so bezeichnen, daß durch sie die allgemeine politische Richtung des Landes während der nächsten Wahlperiode im Wesentlichen bestimmt wird. Anders ist es bei uns, hier greift die Bedeutung der Wahlen viel weiter. Wir haben erst eine kurze Strecke auf der Bahn des Verfassungslcbens zurückgelegt; wir bewegen uns noch mit unsicheren Schritten aus diesem Boden; die Institutionen, welche zum Ausbau und zur Sicherung der Verfassung erforderlich sind, sind theils noch un¬ fertig und theils fehlen sie ganz; eine thätige und einflußreiche Parte! setzt alle Mittel in Bewegung, um die Verfassung wie früher zu einer Lüge zu machen. Der Ausfall der Wahlen wird also von entscheidender Bedeutung sein — nicht zwar für den Bestand der Verfassung, aber es wird doch von ihnen abhängen, ob wir in der wenn auch langsamen doch stetigen Entwickelung, in der wir uns be¬ finden, fortschreiten werden, oder ob ein Rückschlag eintreten soll, dessen Stärke und Dauer im Voraus gar nicht zu ermessen ist. In der nächsten Legislaturperiode werden viel entscheidendere Fragen zum Austrag kommen, als in der jetzt abgelau¬ fenen. Um so mehr brauchen wir Volksvertreter von gereiften Ansichten und festem Charakter; Schwächlinge von halbem Urtheil und halbem Willen können nichts nützen und werden vielmehr gefährlich sein, weil sie den Krisen, die uns bevorstehen, nicht gewachsen sein können. Wie ganz verschieden von der heutigen war die Physiognomie, welche vor drei Jahren das Land den Wahlen gegenüber zeigte? Damals war das neue Ministerium, welches der Prinz-Regent bei der Uebernahme der Regierung berufen hatte, so eben an die Spitze der Geschäfte getreten. Das Land, nach einer zehnjährigen Mißrcgie- rung aus dem Schlamme der Lüge und der Korruption erlöst, athmete wieder frei auf in der gesunden Luft einer redlichen, auf dem Boden der Verfassung stehenden Verwaltung. Alle dem Feudalismus abgeneigten Schichten der bürgerlichen Gesell¬ schaft waren von unbedingter Hingebung an das Ministerium erfüllt. War doch dieses aus den Führern derjenigen Partei gebildet, welche mit Einsicht, Ausdauer und Zähigkeit das theure Pfand der Verfassung durch die zehnjährige Rcactionsperiode

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/282>, abgerufen am 26.04.2024.