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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band.

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Die preußischen Wahlen.

Unter lebhafter, ja leidenschaftlicher Betheiligung der Wähler sind die preu¬
ßischen Wahlen beendet, die Zeitungen verkünden die neuen Vertreter des Volks
und mustern die Parteistellung der Erwählten. Noch ist genaue Einsicht in
das Zahlverhältniß der einzelnen Fractionen nicht möglich, kaum sind .die sämmt¬
lichen Namen bekannt, bei mehren neuen Namen ist zweifelhaft, welchen Ge¬
nossen sie sich anschließen werden, selbst nach dem Zusammentritt des Ab¬
geordnetenhauses werden Ministerielle. Altliberale und Fortschrtttsmänner ein¬
ander einzelne Stimmen abgeben müssen.

Aber wie sich auch ihr Verhältniß in Ziffern ausdrücken wird, eine That¬
sache steht bereits heut fest. Zum erstenmal seit dreizehn Jahren, zum ersten¬
mal seit Preußen eine Verfassung besitzt, wird die Vertretung des Volkes den
Eindruck machen, daß sie alle Schattirungen der liberalen Wünsche voll und
reichlich darstellt. Durch ein Jahrzehnt steuerte das Abgeordnetenhaus über eine
trübe Fluth wie ein Schwan, dem der linke Flügel verstümmelt ist. Gegen¬
über einer geräuschvollen begünstigten Partei, welche von den Bedürfnissen der
Gegenwart ablenkte, fehlte nur zu sehr die behende Kraft, welche das frische
Begehren des Volkes vertrat. Die große Partei der Altliberalen aber, welche
in dieser aufreibenden Zeit mit Ausdauer und Pflichttreue für das Verfassungs¬
leben Preußens gekämpft hat, war in der unerhörten Lage, zugleich die be¬
dächtige Weisheit und jugendliche Wärme, prüfendes Abwägen und energisches
Fordern vereinigen zu sollen. Auch als in den letzten Jahren ein günstiger
Stern dem öffentlichen Leben Preußens leuchtete, war ,die Stellung der
liberalen Partei nicht besser geworden. Sie sollte zu gleicher Zeit Vertraute
des Ministeriums und Heischende für das Volk, Stütze der Regierung und
Opposition, Zustimmende und Unzufriedene sein. Die Stellung war auf
die Länge unhaltbar; bei dem besten Willen aller Theile hat die Partei
in den letzten Jahren sehr darunter gelitten; wenn sie unzufrieden bewilligte,
oder wenn sie zögernd widerstand, immer erhielt sie ein mürrisches, verstimmtes,
unsicheres Ansehen, das ihrer innern Tüchtigkeit gar nicht entsprach.

Jetzt aber rückt die große Partei der Altliberalen in die Stellung ein,
welche ihr gebührt. Sie vermag jetzt mit besserem Selbstgefühl und höherer
Berechtigung ihre Politik eines maßvollen Avwägens durchzuführen. Sie


Grenzboten IV. 1861. 56
Die preußischen Wahlen.

Unter lebhafter, ja leidenschaftlicher Betheiligung der Wähler sind die preu¬
ßischen Wahlen beendet, die Zeitungen verkünden die neuen Vertreter des Volks
und mustern die Parteistellung der Erwählten. Noch ist genaue Einsicht in
das Zahlverhältniß der einzelnen Fractionen nicht möglich, kaum sind .die sämmt¬
lichen Namen bekannt, bei mehren neuen Namen ist zweifelhaft, welchen Ge¬
nossen sie sich anschließen werden, selbst nach dem Zusammentritt des Ab¬
geordnetenhauses werden Ministerielle. Altliberale und Fortschrtttsmänner ein¬
ander einzelne Stimmen abgeben müssen.

Aber wie sich auch ihr Verhältniß in Ziffern ausdrücken wird, eine That¬
sache steht bereits heut fest. Zum erstenmal seit dreizehn Jahren, zum ersten¬
mal seit Preußen eine Verfassung besitzt, wird die Vertretung des Volkes den
Eindruck machen, daß sie alle Schattirungen der liberalen Wünsche voll und
reichlich darstellt. Durch ein Jahrzehnt steuerte das Abgeordnetenhaus über eine
trübe Fluth wie ein Schwan, dem der linke Flügel verstümmelt ist. Gegen¬
über einer geräuschvollen begünstigten Partei, welche von den Bedürfnissen der
Gegenwart ablenkte, fehlte nur zu sehr die behende Kraft, welche das frische
Begehren des Volkes vertrat. Die große Partei der Altliberalen aber, welche
in dieser aufreibenden Zeit mit Ausdauer und Pflichttreue für das Verfassungs¬
leben Preußens gekämpft hat, war in der unerhörten Lage, zugleich die be¬
dächtige Weisheit und jugendliche Wärme, prüfendes Abwägen und energisches
Fordern vereinigen zu sollen. Auch als in den letzten Jahren ein günstiger
Stern dem öffentlichen Leben Preußens leuchtete, war ,die Stellung der
liberalen Partei nicht besser geworden. Sie sollte zu gleicher Zeit Vertraute
des Ministeriums und Heischende für das Volk, Stütze der Regierung und
Opposition, Zustimmende und Unzufriedene sein. Die Stellung war auf
die Länge unhaltbar; bei dem besten Willen aller Theile hat die Partei
in den letzten Jahren sehr darunter gelitten; wenn sie unzufrieden bewilligte,
oder wenn sie zögernd widerstand, immer erhielt sie ein mürrisches, verstimmtes,
unsicheres Ansehen, das ihrer innern Tüchtigkeit gar nicht entsprach.

Jetzt aber rückt die große Partei der Altliberalen in die Stellung ein,
welche ihr gebührt. Sie vermag jetzt mit besserem Selbstgefühl und höherer
Berechtigung ihre Politik eines maßvollen Avwägens durchzuführen. Sie


Grenzboten IV. 1861. 56
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[0451] Die preußischen Wahlen. Unter lebhafter, ja leidenschaftlicher Betheiligung der Wähler sind die preu¬ ßischen Wahlen beendet, die Zeitungen verkünden die neuen Vertreter des Volks und mustern die Parteistellung der Erwählten. Noch ist genaue Einsicht in das Zahlverhältniß der einzelnen Fractionen nicht möglich, kaum sind .die sämmt¬ lichen Namen bekannt, bei mehren neuen Namen ist zweifelhaft, welchen Ge¬ nossen sie sich anschließen werden, selbst nach dem Zusammentritt des Ab¬ geordnetenhauses werden Ministerielle. Altliberale und Fortschrtttsmänner ein¬ ander einzelne Stimmen abgeben müssen. Aber wie sich auch ihr Verhältniß in Ziffern ausdrücken wird, eine That¬ sache steht bereits heut fest. Zum erstenmal seit dreizehn Jahren, zum ersten¬ mal seit Preußen eine Verfassung besitzt, wird die Vertretung des Volkes den Eindruck machen, daß sie alle Schattirungen der liberalen Wünsche voll und reichlich darstellt. Durch ein Jahrzehnt steuerte das Abgeordnetenhaus über eine trübe Fluth wie ein Schwan, dem der linke Flügel verstümmelt ist. Gegen¬ über einer geräuschvollen begünstigten Partei, welche von den Bedürfnissen der Gegenwart ablenkte, fehlte nur zu sehr die behende Kraft, welche das frische Begehren des Volkes vertrat. Die große Partei der Altliberalen aber, welche in dieser aufreibenden Zeit mit Ausdauer und Pflichttreue für das Verfassungs¬ leben Preußens gekämpft hat, war in der unerhörten Lage, zugleich die be¬ dächtige Weisheit und jugendliche Wärme, prüfendes Abwägen und energisches Fordern vereinigen zu sollen. Auch als in den letzten Jahren ein günstiger Stern dem öffentlichen Leben Preußens leuchtete, war ,die Stellung der liberalen Partei nicht besser geworden. Sie sollte zu gleicher Zeit Vertraute des Ministeriums und Heischende für das Volk, Stütze der Regierung und Opposition, Zustimmende und Unzufriedene sein. Die Stellung war auf die Länge unhaltbar; bei dem besten Willen aller Theile hat die Partei in den letzten Jahren sehr darunter gelitten; wenn sie unzufrieden bewilligte, oder wenn sie zögernd widerstand, immer erhielt sie ein mürrisches, verstimmtes, unsicheres Ansehen, das ihrer innern Tüchtigkeit gar nicht entsprach. Jetzt aber rückt die große Partei der Altliberalen in die Stellung ein, welche ihr gebührt. Sie vermag jetzt mit besserem Selbstgefühl und höherer Berechtigung ihre Politik eines maßvollen Avwägens durchzuführen. Sie Grenzboten IV. 1861. 56

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_112507/451>, abgerufen am 26.04.2024.