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Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band.

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Ricasoli mit Rattazzi.

Als Italien vor nunmehr neun Monaten den Grafen Cavour begrub,
war man sich allgemein bewußt, daß ein großer Name ausgelöscht aus dem
Buch der Lebendigen, daß das Land einen Verlust erlitten, der kaum zu er¬
setzen. Daß der dahingeschiedene Staatsmann wirklich unersetzlich gewesen,
haben die Ereignisse seitdem gezeigt. Wir sahen einen beträchtlichen Theil dessen,
was er that, aber von dem, was er Andere nicht thun ließ, gingen nur Gerüchte
und Ahnungen um, und gerade diese Seite seiner rastlosen Thätigkeit war in den
letzten Jahren offenbar die bedeutendere. Der mächtige Einfluß, den er auf den
König, auf seinen Verbündeten jenseits der Alpen und auf das italienische Volk
ausübte, wurde allenthalben empfunden, aber erst jetzt, an dem Vergleich mit dem,
was seither geschehen, erkennen wir, wie außerordentlich, wie erstaunlich er gewesen.
Sein Nachfolger, ihm ohne Zweifel gleich an Reinheit des patriotischen Strebens,
Adel des Charakters, Festigkeit des Willens, hatte weder die ungewöhnlichen
Geisteskräfte Cavours noch jenes allgemeine, die höchste Zuversicht des Erfolgs
einschließende Ansehen bei der Nation, das er sich durch das wunderbare Werk
erworben, welches er fast bis zur.Vollendung hinausgeführt.

Baron Nicasoli war zu steif und ernst, um bei den Massen beliebt zu
sein. Ihm mangelte die Neigung des Königs. Der Kaiser der Franzosen
fürchtete ihn nicht in dem Maß wie seinen Vorgänger, Nur das Parlament,
welches reichlich Gelegenheit gehabt, zu erkennen, wie verständig seine An¬
schauung von der Lage der Dinge, wie fleckenlos sein Ruf, und wie uneigen¬
nützig seine Vaterlandsliebe, wußte ihn nach Verdienst zu schätzen. Sein Rück¬
tritt vom Staatsruder im jetzigen Augenblick ist einer der größten Unglücksfälle,
welche das noch unconsolidirte Königreich Italien treffen konnten.'

Baron Bellino Ricasoli, einer der ältesten Adelsfamilien Toscanas
entstammend, reich begütert, zu den ersten Landwirthen Italiens gezählt, ist
jedenfalls auch als Politiker eine bedeutende Erscheinung. Nur fehlt ihm das.
was in diesem Jahrhundert der Compromisse vor Allem noth thut, die Ela¬
sticität des Diplomaten, die, in dem einen Augenblick den Verhältnissen nach¬
gebend, im nächsten die Gelegenheit ersieht, um doch zu erreichen, was beab-


Grenzboten. I. 1862. 61
Ricasoli mit Rattazzi.

Als Italien vor nunmehr neun Monaten den Grafen Cavour begrub,
war man sich allgemein bewußt, daß ein großer Name ausgelöscht aus dem
Buch der Lebendigen, daß das Land einen Verlust erlitten, der kaum zu er¬
setzen. Daß der dahingeschiedene Staatsmann wirklich unersetzlich gewesen,
haben die Ereignisse seitdem gezeigt. Wir sahen einen beträchtlichen Theil dessen,
was er that, aber von dem, was er Andere nicht thun ließ, gingen nur Gerüchte
und Ahnungen um, und gerade diese Seite seiner rastlosen Thätigkeit war in den
letzten Jahren offenbar die bedeutendere. Der mächtige Einfluß, den er auf den
König, auf seinen Verbündeten jenseits der Alpen und auf das italienische Volk
ausübte, wurde allenthalben empfunden, aber erst jetzt, an dem Vergleich mit dem,
was seither geschehen, erkennen wir, wie außerordentlich, wie erstaunlich er gewesen.
Sein Nachfolger, ihm ohne Zweifel gleich an Reinheit des patriotischen Strebens,
Adel des Charakters, Festigkeit des Willens, hatte weder die ungewöhnlichen
Geisteskräfte Cavours noch jenes allgemeine, die höchste Zuversicht des Erfolgs
einschließende Ansehen bei der Nation, das er sich durch das wunderbare Werk
erworben, welches er fast bis zur.Vollendung hinausgeführt.

Baron Nicasoli war zu steif und ernst, um bei den Massen beliebt zu
sein. Ihm mangelte die Neigung des Königs. Der Kaiser der Franzosen
fürchtete ihn nicht in dem Maß wie seinen Vorgänger, Nur das Parlament,
welches reichlich Gelegenheit gehabt, zu erkennen, wie verständig seine An¬
schauung von der Lage der Dinge, wie fleckenlos sein Ruf, und wie uneigen¬
nützig seine Vaterlandsliebe, wußte ihn nach Verdienst zu schätzen. Sein Rück¬
tritt vom Staatsruder im jetzigen Augenblick ist einer der größten Unglücksfälle,
welche das noch unconsolidirte Königreich Italien treffen konnten.'

Baron Bellino Ricasoli, einer der ältesten Adelsfamilien Toscanas
entstammend, reich begütert, zu den ersten Landwirthen Italiens gezählt, ist
jedenfalls auch als Politiker eine bedeutende Erscheinung. Nur fehlt ihm das.
was in diesem Jahrhundert der Compromisse vor Allem noth thut, die Ela¬
sticität des Diplomaten, die, in dem einen Augenblick den Verhältnissen nach¬
gebend, im nächsten die Gelegenheit ersieht, um doch zu erreichen, was beab-


Grenzboten. I. 1862. 61
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[0489] Ricasoli mit Rattazzi. Als Italien vor nunmehr neun Monaten den Grafen Cavour begrub, war man sich allgemein bewußt, daß ein großer Name ausgelöscht aus dem Buch der Lebendigen, daß das Land einen Verlust erlitten, der kaum zu er¬ setzen. Daß der dahingeschiedene Staatsmann wirklich unersetzlich gewesen, haben die Ereignisse seitdem gezeigt. Wir sahen einen beträchtlichen Theil dessen, was er that, aber von dem, was er Andere nicht thun ließ, gingen nur Gerüchte und Ahnungen um, und gerade diese Seite seiner rastlosen Thätigkeit war in den letzten Jahren offenbar die bedeutendere. Der mächtige Einfluß, den er auf den König, auf seinen Verbündeten jenseits der Alpen und auf das italienische Volk ausübte, wurde allenthalben empfunden, aber erst jetzt, an dem Vergleich mit dem, was seither geschehen, erkennen wir, wie außerordentlich, wie erstaunlich er gewesen. Sein Nachfolger, ihm ohne Zweifel gleich an Reinheit des patriotischen Strebens, Adel des Charakters, Festigkeit des Willens, hatte weder die ungewöhnlichen Geisteskräfte Cavours noch jenes allgemeine, die höchste Zuversicht des Erfolgs einschließende Ansehen bei der Nation, das er sich durch das wunderbare Werk erworben, welches er fast bis zur.Vollendung hinausgeführt. Baron Nicasoli war zu steif und ernst, um bei den Massen beliebt zu sein. Ihm mangelte die Neigung des Königs. Der Kaiser der Franzosen fürchtete ihn nicht in dem Maß wie seinen Vorgänger, Nur das Parlament, welches reichlich Gelegenheit gehabt, zu erkennen, wie verständig seine An¬ schauung von der Lage der Dinge, wie fleckenlos sein Ruf, und wie uneigen¬ nützig seine Vaterlandsliebe, wußte ihn nach Verdienst zu schätzen. Sein Rück¬ tritt vom Staatsruder im jetzigen Augenblick ist einer der größten Unglücksfälle, welche das noch unconsolidirte Königreich Italien treffen konnten.' Baron Bellino Ricasoli, einer der ältesten Adelsfamilien Toscanas entstammend, reich begütert, zu den ersten Landwirthen Italiens gezählt, ist jedenfalls auch als Politiker eine bedeutende Erscheinung. Nur fehlt ihm das. was in diesem Jahrhundert der Compromisse vor Allem noth thut, die Ela¬ sticität des Diplomaten, die, in dem einen Augenblick den Verhältnissen nach¬ gebend, im nächsten die Gelegenheit ersieht, um doch zu erreichen, was beab- Grenzboten. I. 1862. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 21, 1862, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341795_113241/489>, abgerufen am 27.04.2024.