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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Briefe über Oestreich.
2. Oestreich und die polnische Frage.

Selten hat dem Anschein nach ein Ereigniß einen so plötzlichen Umschwung
in den Beziehungen der einzelnen Glieder des europäischen Staatensystems zu
einander hervorgebracht, selten ein Ereigniß in den einzelnen Staaten einen so
schroffen Conflict der Interessen unter einander und gegen altüberlieferte Prin¬
cipien und Tendenzen hervorgerufen, als der polnische Aufstand. Frankreich
und Rußland, deren bevorstehendes Bündniß vor wenigen Monaten noch die
Sorge aller Publicisten und Politiker war, erfüllen heut den friedliebenden
Theil Europas mit der Furcht, daß ihre feindliche Spannung alle Staaten des
Erdtheils in einen allgemeinen Weltbrand hineinreißen werde. Frankreich und
England, deren Freundschaft bereits auf den Gefrierpunkt herabgesunken war,
stehen eng vereinigt, wenn auch nicht zu gemeinsamer Action, so doch zu ge¬
meinsamem Notenschreiben. Als drittes Glied im Bunde tritt Oestreich, der
Schrecken und der entschiedenste Feind des Nationalitätsprincips, für die Rechte
der polnischen Nation in die Schranken. Selbst die Curie, mit ihrer alten
Geschicklichkeit die unbeugsamen Principien in ihrer Anwendung den Umständen
anzupassen, vergißt, daß sie längst den Freiheits- und Nationalitäsbestrebungen
der Italiener zum Opfer gefallen wäre, wenn sie nicht durch den starken Arm
des demokratischen Imperators geschützt würde, und tritt im Namen der katho¬
lischen Kirche für die Freiheit und Nationalität der Polen ein. Preußen sieht
sich durch einen übereilten Schritt aus seinen natürlichen Beziehungen heraus¬
gerissen und in Bahnen gedrängt, aus denen es ohne große Gefahr nicht wei¬
ter gehen kann, und aus denen es doch schwer ist den Ausweg zu finden.

Indessen, um die an den polnischen Aufstand sich knüpfenden Hoffnungen
und Befürchtungen auf ihr richtiges Maß zurückzuführen, wird man vor Allem
die Beziehungen Oestreichs sowohl zu seinen neuen Verbündeten, wie auch zu Po¬
len selbst, ohne Rücksicht auf die allgemeine Weltlage, ins Auge zu fassen haben.
Oestreich ist nebst Preußen der Staat, der am unmittelbarsten von allen Ereignissen
im Königreich Polen berührt ist, und es ist nicht das erste Mal, daß es einem pol-


Grenzboten III. 1S63. 16
Briefe über Oestreich.
2. Oestreich und die polnische Frage.

Selten hat dem Anschein nach ein Ereigniß einen so plötzlichen Umschwung
in den Beziehungen der einzelnen Glieder des europäischen Staatensystems zu
einander hervorgebracht, selten ein Ereigniß in den einzelnen Staaten einen so
schroffen Conflict der Interessen unter einander und gegen altüberlieferte Prin¬
cipien und Tendenzen hervorgerufen, als der polnische Aufstand. Frankreich
und Rußland, deren bevorstehendes Bündniß vor wenigen Monaten noch die
Sorge aller Publicisten und Politiker war, erfüllen heut den friedliebenden
Theil Europas mit der Furcht, daß ihre feindliche Spannung alle Staaten des
Erdtheils in einen allgemeinen Weltbrand hineinreißen werde. Frankreich und
England, deren Freundschaft bereits auf den Gefrierpunkt herabgesunken war,
stehen eng vereinigt, wenn auch nicht zu gemeinsamer Action, so doch zu ge¬
meinsamem Notenschreiben. Als drittes Glied im Bunde tritt Oestreich, der
Schrecken und der entschiedenste Feind des Nationalitätsprincips, für die Rechte
der polnischen Nation in die Schranken. Selbst die Curie, mit ihrer alten
Geschicklichkeit die unbeugsamen Principien in ihrer Anwendung den Umständen
anzupassen, vergißt, daß sie längst den Freiheits- und Nationalitäsbestrebungen
der Italiener zum Opfer gefallen wäre, wenn sie nicht durch den starken Arm
des demokratischen Imperators geschützt würde, und tritt im Namen der katho¬
lischen Kirche für die Freiheit und Nationalität der Polen ein. Preußen sieht
sich durch einen übereilten Schritt aus seinen natürlichen Beziehungen heraus¬
gerissen und in Bahnen gedrängt, aus denen es ohne große Gefahr nicht wei¬
ter gehen kann, und aus denen es doch schwer ist den Ausweg zu finden.

Indessen, um die an den polnischen Aufstand sich knüpfenden Hoffnungen
und Befürchtungen auf ihr richtiges Maß zurückzuführen, wird man vor Allem
die Beziehungen Oestreichs sowohl zu seinen neuen Verbündeten, wie auch zu Po¬
len selbst, ohne Rücksicht auf die allgemeine Weltlage, ins Auge zu fassen haben.
Oestreich ist nebst Preußen der Staat, der am unmittelbarsten von allen Ereignissen
im Königreich Polen berührt ist, und es ist nicht das erste Mal, daß es einem pol-


Grenzboten III. 1S63. 16
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[0129] Briefe über Oestreich. 2. Oestreich und die polnische Frage. Selten hat dem Anschein nach ein Ereigniß einen so plötzlichen Umschwung in den Beziehungen der einzelnen Glieder des europäischen Staatensystems zu einander hervorgebracht, selten ein Ereigniß in den einzelnen Staaten einen so schroffen Conflict der Interessen unter einander und gegen altüberlieferte Prin¬ cipien und Tendenzen hervorgerufen, als der polnische Aufstand. Frankreich und Rußland, deren bevorstehendes Bündniß vor wenigen Monaten noch die Sorge aller Publicisten und Politiker war, erfüllen heut den friedliebenden Theil Europas mit der Furcht, daß ihre feindliche Spannung alle Staaten des Erdtheils in einen allgemeinen Weltbrand hineinreißen werde. Frankreich und England, deren Freundschaft bereits auf den Gefrierpunkt herabgesunken war, stehen eng vereinigt, wenn auch nicht zu gemeinsamer Action, so doch zu ge¬ meinsamem Notenschreiben. Als drittes Glied im Bunde tritt Oestreich, der Schrecken und der entschiedenste Feind des Nationalitätsprincips, für die Rechte der polnischen Nation in die Schranken. Selbst die Curie, mit ihrer alten Geschicklichkeit die unbeugsamen Principien in ihrer Anwendung den Umständen anzupassen, vergißt, daß sie längst den Freiheits- und Nationalitäsbestrebungen der Italiener zum Opfer gefallen wäre, wenn sie nicht durch den starken Arm des demokratischen Imperators geschützt würde, und tritt im Namen der katho¬ lischen Kirche für die Freiheit und Nationalität der Polen ein. Preußen sieht sich durch einen übereilten Schritt aus seinen natürlichen Beziehungen heraus¬ gerissen und in Bahnen gedrängt, aus denen es ohne große Gefahr nicht wei¬ ter gehen kann, und aus denen es doch schwer ist den Ausweg zu finden. Indessen, um die an den polnischen Aufstand sich knüpfenden Hoffnungen und Befürchtungen auf ihr richtiges Maß zurückzuführen, wird man vor Allem die Beziehungen Oestreichs sowohl zu seinen neuen Verbündeten, wie auch zu Po¬ len selbst, ohne Rücksicht auf die allgemeine Weltlage, ins Auge zu fassen haben. Oestreich ist nebst Preußen der Staat, der am unmittelbarsten von allen Ereignissen im Königreich Polen berührt ist, und es ist nicht das erste Mal, daß es einem pol- Grenzboten III. 1S63. 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/129>, abgerufen am 29.04.2024.