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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Frau Gräfin hat die Besitzung zu einer polnischen Bürger-Ressource leih¬
weise, unentgeltlich hergegeben. Bei wie vielen deutschen Edelfrauen möchten
wir wohl gleiche Willigkeit finden?

Endlich hätte ich noch einer Reise unseres Oberpräsidenten von Posen aus
durch die Kreise Schroda, Pleschen, Krotoschin, Kröben zu gedenken, bei der
namentlich das Seminargebäude in Kozmin, die dasige Gefangnenanstalt und das
Zuchthaus zu Nawicz genauer inspicirt wurden. Wir haben ja aber für Werke
des Friedens keine Zeit.




Ein Blick aus die neuere böhmische Literatur.

Franz Palacky: Geschichte von Böhmen. Band I--IV.

Heutzutage darf kein bedeutendes literarisches Werk, und wäre sein Ge¬
genstand noch so fremdartig, die Literatur, der es angehört, noch so entlegen,
dem Verständnisse unseres Publicums auf die Dauer entzogen bleiben. Unsere
Bildung fordert Rechenschaft über alle Geisteserscheinungen der zeitgenössischen
Welt, und diese Forderung geht aus dein Bewußtsein hervor, daß sie auf einem
Stadium angelangt ist, in welchem sie ein Anrecht darauf hat, alle Geistes-
productionen der Mitwelt theilnehmend mit zu erleben, d. h. sie nicht blos kennen
zu lernen und um ihren Inhalt zu wissen, sondern zugleich auch des sittlichen Ge¬
winnes geistiger Arbeit theilhaft zu werden, welcher zunächst das eigentlich Ucber-
dauernde jeder Geistesschöpfung ist. So sehr aber diese Einsicht ein wahrhaft
universelles literarisches Interesse erst möglich macht, so ist gerade sie es wieder,
welche vermöge ihres ethischen Gesichtspunktes die Norm der Beschränkung angibt,
welche angesichts der ungeheueren Masse der gleichzeitigen Literaturen trotz der
großen Ausbildung literarischer Vermittlungsorgane von nöthen ist, und sie be¬
zeichnet um deswillen schon einen erheblichen Fortschritt in unserem Geistes¬
leben, insoweit es in der Literatur Nahrung und Ausdruck hat. Denn im
Gegensatze zu der verschwommenen und nervösen Empfindsamkeit, mit welcher
vor einem Menschenalter noch das Interesse an der Weltliteratur gepflegt und
genossen wurde, ist der Sinn der Aufnahme und Würdigung heute zwar nüch¬
terner und spröder, aber auch desto reifer und selbstthätiger. Die Receptivität
wird zu tüchtiger, ernster Arbeit, der es daraus ankommt, sich mit dem, was
geboten wird, bestimmt und ein für alle Mal auseinanderzusetzen, ein persön¬
liches Verhältniß dazu einzunehmen.

Dieses Ueberwiegen des Bewußtseins der Persönlichkeit in unsrem Ver-


Frau Gräfin hat die Besitzung zu einer polnischen Bürger-Ressource leih¬
weise, unentgeltlich hergegeben. Bei wie vielen deutschen Edelfrauen möchten
wir wohl gleiche Willigkeit finden?

Endlich hätte ich noch einer Reise unseres Oberpräsidenten von Posen aus
durch die Kreise Schroda, Pleschen, Krotoschin, Kröben zu gedenken, bei der
namentlich das Seminargebäude in Kozmin, die dasige Gefangnenanstalt und das
Zuchthaus zu Nawicz genauer inspicirt wurden. Wir haben ja aber für Werke
des Friedens keine Zeit.




Ein Blick aus die neuere böhmische Literatur.

Franz Palacky: Geschichte von Böhmen. Band I—IV.

Heutzutage darf kein bedeutendes literarisches Werk, und wäre sein Ge¬
genstand noch so fremdartig, die Literatur, der es angehört, noch so entlegen,
dem Verständnisse unseres Publicums auf die Dauer entzogen bleiben. Unsere
Bildung fordert Rechenschaft über alle Geisteserscheinungen der zeitgenössischen
Welt, und diese Forderung geht aus dein Bewußtsein hervor, daß sie auf einem
Stadium angelangt ist, in welchem sie ein Anrecht darauf hat, alle Geistes-
productionen der Mitwelt theilnehmend mit zu erleben, d. h. sie nicht blos kennen
zu lernen und um ihren Inhalt zu wissen, sondern zugleich auch des sittlichen Ge¬
winnes geistiger Arbeit theilhaft zu werden, welcher zunächst das eigentlich Ucber-
dauernde jeder Geistesschöpfung ist. So sehr aber diese Einsicht ein wahrhaft
universelles literarisches Interesse erst möglich macht, so ist gerade sie es wieder,
welche vermöge ihres ethischen Gesichtspunktes die Norm der Beschränkung angibt,
welche angesichts der ungeheueren Masse der gleichzeitigen Literaturen trotz der
großen Ausbildung literarischer Vermittlungsorgane von nöthen ist, und sie be¬
zeichnet um deswillen schon einen erheblichen Fortschritt in unserem Geistes¬
leben, insoweit es in der Literatur Nahrung und Ausdruck hat. Denn im
Gegensatze zu der verschwommenen und nervösen Empfindsamkeit, mit welcher
vor einem Menschenalter noch das Interesse an der Weltliteratur gepflegt und
genossen wurde, ist der Sinn der Aufnahme und Würdigung heute zwar nüch¬
terner und spröder, aber auch desto reifer und selbstthätiger. Die Receptivität
wird zu tüchtiger, ernster Arbeit, der es daraus ankommt, sich mit dem, was
geboten wird, bestimmt und ein für alle Mal auseinanderzusetzen, ein persön¬
liches Verhältniß dazu einzunehmen.

Dieses Ueberwiegen des Bewußtseins der Persönlichkeit in unsrem Ver-


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[0159] Frau Gräfin hat die Besitzung zu einer polnischen Bürger-Ressource leih¬ weise, unentgeltlich hergegeben. Bei wie vielen deutschen Edelfrauen möchten wir wohl gleiche Willigkeit finden? Endlich hätte ich noch einer Reise unseres Oberpräsidenten von Posen aus durch die Kreise Schroda, Pleschen, Krotoschin, Kröben zu gedenken, bei der namentlich das Seminargebäude in Kozmin, die dasige Gefangnenanstalt und das Zuchthaus zu Nawicz genauer inspicirt wurden. Wir haben ja aber für Werke des Friedens keine Zeit. Ein Blick aus die neuere böhmische Literatur. Franz Palacky: Geschichte von Böhmen. Band I—IV. Heutzutage darf kein bedeutendes literarisches Werk, und wäre sein Ge¬ genstand noch so fremdartig, die Literatur, der es angehört, noch so entlegen, dem Verständnisse unseres Publicums auf die Dauer entzogen bleiben. Unsere Bildung fordert Rechenschaft über alle Geisteserscheinungen der zeitgenössischen Welt, und diese Forderung geht aus dein Bewußtsein hervor, daß sie auf einem Stadium angelangt ist, in welchem sie ein Anrecht darauf hat, alle Geistes- productionen der Mitwelt theilnehmend mit zu erleben, d. h. sie nicht blos kennen zu lernen und um ihren Inhalt zu wissen, sondern zugleich auch des sittlichen Ge¬ winnes geistiger Arbeit theilhaft zu werden, welcher zunächst das eigentlich Ucber- dauernde jeder Geistesschöpfung ist. So sehr aber diese Einsicht ein wahrhaft universelles literarisches Interesse erst möglich macht, so ist gerade sie es wieder, welche vermöge ihres ethischen Gesichtspunktes die Norm der Beschränkung angibt, welche angesichts der ungeheueren Masse der gleichzeitigen Literaturen trotz der großen Ausbildung literarischer Vermittlungsorgane von nöthen ist, und sie be¬ zeichnet um deswillen schon einen erheblichen Fortschritt in unserem Geistes¬ leben, insoweit es in der Literatur Nahrung und Ausdruck hat. Denn im Gegensatze zu der verschwommenen und nervösen Empfindsamkeit, mit welcher vor einem Menschenalter noch das Interesse an der Weltliteratur gepflegt und genossen wurde, ist der Sinn der Aufnahme und Würdigung heute zwar nüch¬ terner und spröder, aber auch desto reifer und selbstthätiger. Die Receptivität wird zu tüchtiger, ernster Arbeit, der es daraus ankommt, sich mit dem, was geboten wird, bestimmt und ein für alle Mal auseinanderzusetzen, ein persön¬ liches Verhältniß dazu einzunehmen. Dieses Ueberwiegen des Bewußtseins der Persönlichkeit in unsrem Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/159>, abgerufen am 29.04.2024.