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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Frühere Ansichten über die Stellung von Communen zu
politischen Angelegenheiten.

Bekanntlich hat es ziemlich lange gedauert, bis die mit dem Finanzcdicte
von 1810 beginnenden preußischen Vcrfassungsverheißungen anfingen zur Wahr¬
heit werden zu wollen. Wenige Jahre nach den deutschen Siegestagen war
man noch so sanguinisch und noch so wenig durch die Erfahrung abgestumpft,
daß man eine so lange währende Entwickelung -- oder Einwickciung -- der
Sache trotz der aufdämmernden schlimmen Anzeichen nicht im Traume ahnte.
Es dürfte bei der jetzigen Lage der Dinge von Interesse sein, zu erfahren, wie
damals Evmmunen und die Staatsregierung in Preußen die Stellung der er¬
steren zu dieser und verwandten politischen Angelegenheiten aufgefaßt haben.

Für die neuen oder wiedererwvrbenen Provinzen am Rhein handelte es
sich damals in erster Stelle um die Bewahrung dessen, was ihnen die Fremd¬
herrschaft Gutes gebracht hatte. Man wollte mit dem Uebel, von dem man
sich blutig losgekämpft, keineswegs auch das aufgeben, was die napoleonische
Periode Brauchbares geschaffen, und eben diese Ansicht war es, welche der Kö¬
nig selbst in den Besitzergreifungspatenten wie in der Verordnung über die
Justizrevrganisation ausgesprochen. Als die Besorgniß Wurzel faßte, daß man
zu Gunsten der Uniformität des Staates die rheinländischen Einrichtungen in
Recht und Verwaltung durch die der altländischen Provinzen zu ersehen trachte,
hielten sich die rheinischen Städte nicht nur für berufen, sondern verpflichtet,
ihre Stimme zu erheben, dabei die Vcrsassungsfordcrung laut betonend, und
die Regierung -- doch lassen wir die Facta selbst reden.

Als König Friedrich Wilhelm der Dritte im Jahre 1817 Trier besuchte,
präsentirte sich der Stadtrath (Magistrat) vor ihm, und der Bürgermeister hielt
bei dieser Gelegenheit eine Anrede, worin er u. A. dem dringlichen Wunsche
der Bürgerschaft!, nicht ihrer rechtlichen Institutionen beraubt zu werden und
eine dem Zeitgeiste gemäße ständische Verfassung zu erhalten, Worte gab und
schließlich die Ansprüche der Rheinlande bestimmt formulirte: unbeschränkte
Freiheiten in Ausübung des Handels und der Gewerbe, Entfernung des Feu¬
dalsystems, gleiche Vertheilung der Staats- und öffentlichen Lasten, Gleichheit
aller Staatsbürger vor dem Gesetze und dem Richter, Trennung der Gewalten
(der gesetzgebenden, regierenden, rechtsprechenden), Unabhängigkeit des Nichter-
amtes, Oeffentlichkeit des gerichtlichen Verfahrens, Urtheil durch das Gcschwor-
nengericht im Criminalprocesse. Als Motiv dafür sprach er aus: daß der Be¬
wohner des Rheinlandes jenen Einrichtungen den sich mehrenden Wohlstand


Grenzboten III. isss. > 2S
Frühere Ansichten über die Stellung von Communen zu
politischen Angelegenheiten.

Bekanntlich hat es ziemlich lange gedauert, bis die mit dem Finanzcdicte
von 1810 beginnenden preußischen Vcrfassungsverheißungen anfingen zur Wahr¬
heit werden zu wollen. Wenige Jahre nach den deutschen Siegestagen war
man noch so sanguinisch und noch so wenig durch die Erfahrung abgestumpft,
daß man eine so lange währende Entwickelung — oder Einwickciung — der
Sache trotz der aufdämmernden schlimmen Anzeichen nicht im Traume ahnte.
Es dürfte bei der jetzigen Lage der Dinge von Interesse sein, zu erfahren, wie
damals Evmmunen und die Staatsregierung in Preußen die Stellung der er¬
steren zu dieser und verwandten politischen Angelegenheiten aufgefaßt haben.

Für die neuen oder wiedererwvrbenen Provinzen am Rhein handelte es
sich damals in erster Stelle um die Bewahrung dessen, was ihnen die Fremd¬
herrschaft Gutes gebracht hatte. Man wollte mit dem Uebel, von dem man
sich blutig losgekämpft, keineswegs auch das aufgeben, was die napoleonische
Periode Brauchbares geschaffen, und eben diese Ansicht war es, welche der Kö¬
nig selbst in den Besitzergreifungspatenten wie in der Verordnung über die
Justizrevrganisation ausgesprochen. Als die Besorgniß Wurzel faßte, daß man
zu Gunsten der Uniformität des Staates die rheinländischen Einrichtungen in
Recht und Verwaltung durch die der altländischen Provinzen zu ersehen trachte,
hielten sich die rheinischen Städte nicht nur für berufen, sondern verpflichtet,
ihre Stimme zu erheben, dabei die Vcrsassungsfordcrung laut betonend, und
die Regierung — doch lassen wir die Facta selbst reden.

Als König Friedrich Wilhelm der Dritte im Jahre 1817 Trier besuchte,
präsentirte sich der Stadtrath (Magistrat) vor ihm, und der Bürgermeister hielt
bei dieser Gelegenheit eine Anrede, worin er u. A. dem dringlichen Wunsche
der Bürgerschaft!, nicht ihrer rechtlichen Institutionen beraubt zu werden und
eine dem Zeitgeiste gemäße ständische Verfassung zu erhalten, Worte gab und
schließlich die Ansprüche der Rheinlande bestimmt formulirte: unbeschränkte
Freiheiten in Ausübung des Handels und der Gewerbe, Entfernung des Feu¬
dalsystems, gleiche Vertheilung der Staats- und öffentlichen Lasten, Gleichheit
aller Staatsbürger vor dem Gesetze und dem Richter, Trennung der Gewalten
(der gesetzgebenden, regierenden, rechtsprechenden), Unabhängigkeit des Nichter-
amtes, Oeffentlichkeit des gerichtlichen Verfahrens, Urtheil durch das Gcschwor-
nengericht im Criminalprocesse. Als Motiv dafür sprach er aus: daß der Be¬
wohner des Rheinlandes jenen Einrichtungen den sich mehrenden Wohlstand


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[0201] Frühere Ansichten über die Stellung von Communen zu politischen Angelegenheiten. Bekanntlich hat es ziemlich lange gedauert, bis die mit dem Finanzcdicte von 1810 beginnenden preußischen Vcrfassungsverheißungen anfingen zur Wahr¬ heit werden zu wollen. Wenige Jahre nach den deutschen Siegestagen war man noch so sanguinisch und noch so wenig durch die Erfahrung abgestumpft, daß man eine so lange währende Entwickelung — oder Einwickciung — der Sache trotz der aufdämmernden schlimmen Anzeichen nicht im Traume ahnte. Es dürfte bei der jetzigen Lage der Dinge von Interesse sein, zu erfahren, wie damals Evmmunen und die Staatsregierung in Preußen die Stellung der er¬ steren zu dieser und verwandten politischen Angelegenheiten aufgefaßt haben. Für die neuen oder wiedererwvrbenen Provinzen am Rhein handelte es sich damals in erster Stelle um die Bewahrung dessen, was ihnen die Fremd¬ herrschaft Gutes gebracht hatte. Man wollte mit dem Uebel, von dem man sich blutig losgekämpft, keineswegs auch das aufgeben, was die napoleonische Periode Brauchbares geschaffen, und eben diese Ansicht war es, welche der Kö¬ nig selbst in den Besitzergreifungspatenten wie in der Verordnung über die Justizrevrganisation ausgesprochen. Als die Besorgniß Wurzel faßte, daß man zu Gunsten der Uniformität des Staates die rheinländischen Einrichtungen in Recht und Verwaltung durch die der altländischen Provinzen zu ersehen trachte, hielten sich die rheinischen Städte nicht nur für berufen, sondern verpflichtet, ihre Stimme zu erheben, dabei die Vcrsassungsfordcrung laut betonend, und die Regierung — doch lassen wir die Facta selbst reden. Als König Friedrich Wilhelm der Dritte im Jahre 1817 Trier besuchte, präsentirte sich der Stadtrath (Magistrat) vor ihm, und der Bürgermeister hielt bei dieser Gelegenheit eine Anrede, worin er u. A. dem dringlichen Wunsche der Bürgerschaft!, nicht ihrer rechtlichen Institutionen beraubt zu werden und eine dem Zeitgeiste gemäße ständische Verfassung zu erhalten, Worte gab und schließlich die Ansprüche der Rheinlande bestimmt formulirte: unbeschränkte Freiheiten in Ausübung des Handels und der Gewerbe, Entfernung des Feu¬ dalsystems, gleiche Vertheilung der Staats- und öffentlichen Lasten, Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetze und dem Richter, Trennung der Gewalten (der gesetzgebenden, regierenden, rechtsprechenden), Unabhängigkeit des Nichter- amtes, Oeffentlichkeit des gerichtlichen Verfahrens, Urtheil durch das Gcschwor- nengericht im Criminalprocesse. Als Motiv dafür sprach er aus: daß der Be¬ wohner des Rheinlandes jenen Einrichtungen den sich mehrenden Wohlstand Grenzboten III. isss. > 2S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/201>, abgerufen am 29.04.2024.