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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Eine neue Meinung über Pharisäer und Sadduciier.

Sadducäer und Pharisäer. Von Abraham Geiger. Breslau, Schlettersche
Buchhandlung. 1863.

Um die erste Periode der Entstehung des Christenthums recht zu begreifen,
bedürfen wir vor Allem einer umfassenden Kenntniß der politischen und religiösen
Zustände des damaligen Jerusalem, der Mischung der verschiedenen Bildungs¬
sphären in der Stadt und dem ganzen Lande und der Stellung der im Lauf
der vorhergehenden Jahrhunderte entstandenen Sekten und Parteien im jüdischen
Volke.

In Bezug hierauf ist zunächst zu berücksichtigen, daß die Juden zur Zeit
Jesu nicht entfernt mehr die alten Kinder Israel waren, die sich ihrerseits we¬
sentlich von den Hebräern der Urzeit unterschieden hatten. Sie werden viel¬
mehr in vielen Zügen den heutigen Juden alten Schlags, wie sie in Polen
leben, ähnlicher gewesen sein, als dem Volte vor dem Exil. Auf alle Fälle
hatte die Nation während der Periode ihrer Verbannung im Nordosten, unter
Völkern nichtsemitischen Stammes Weltlufr geathmet, dann unter der Herrschaft
der ägyptischen und syrischen Könige macedonischer Herkunft einerseits zahlreiche
mit dem Mutterland in steter Verbindung bleibende, auf dieses einwirkende
Colonien in die Fremde gesandt, andrerseits starke Ströme nichtjüdischer Ein¬
wanderung in ihr Land aufgenommen und endlich sogar in dem Volke von Eton
einen ganz fremden Stamm sich einverleibt, der ihr zuletzt eines seiner Ge¬
schlechter zu Herrschern gab. Die Jncorporirung des Landes in das römische
Weltreich vollendete diesen Proceß der Umgestaltung, so weit es der Charakter
der Nation zuließ.

Besonders starke Eroberungen machte selbstverständlich die griechische Bil¬
dung unter den außerhalb Palästinas angesiedelten Juden. Viele von diesen
verlernten, und zwar selbst in dem nähen Aegypten, die Sprache der Heimath
(die ohnehin nicht mehr das Hebräische, sondern ein andrer, weniger edler Dia¬
lekt des Semitischen war) und dies in dem Maße, daß für sie eine eigne Ueber¬
setzung der heiligen Schriften, die Septuaginta nöthig wurden Sie bequemten
sich vielfach ausländischem Brauch an. In ähnlicher Weise, wie jetzt deutsche
Auswanderer in Amerika ihre Namen cmglisiren, verwandelte sich der im heid-


Grenzboten III. 1863. 51
Eine neue Meinung über Pharisäer und Sadduciier.

Sadducäer und Pharisäer. Von Abraham Geiger. Breslau, Schlettersche
Buchhandlung. 1863.

Um die erste Periode der Entstehung des Christenthums recht zu begreifen,
bedürfen wir vor Allem einer umfassenden Kenntniß der politischen und religiösen
Zustände des damaligen Jerusalem, der Mischung der verschiedenen Bildungs¬
sphären in der Stadt und dem ganzen Lande und der Stellung der im Lauf
der vorhergehenden Jahrhunderte entstandenen Sekten und Parteien im jüdischen
Volke.

In Bezug hierauf ist zunächst zu berücksichtigen, daß die Juden zur Zeit
Jesu nicht entfernt mehr die alten Kinder Israel waren, die sich ihrerseits we¬
sentlich von den Hebräern der Urzeit unterschieden hatten. Sie werden viel¬
mehr in vielen Zügen den heutigen Juden alten Schlags, wie sie in Polen
leben, ähnlicher gewesen sein, als dem Volte vor dem Exil. Auf alle Fälle
hatte die Nation während der Periode ihrer Verbannung im Nordosten, unter
Völkern nichtsemitischen Stammes Weltlufr geathmet, dann unter der Herrschaft
der ägyptischen und syrischen Könige macedonischer Herkunft einerseits zahlreiche
mit dem Mutterland in steter Verbindung bleibende, auf dieses einwirkende
Colonien in die Fremde gesandt, andrerseits starke Ströme nichtjüdischer Ein¬
wanderung in ihr Land aufgenommen und endlich sogar in dem Volke von Eton
einen ganz fremden Stamm sich einverleibt, der ihr zuletzt eines seiner Ge¬
schlechter zu Herrschern gab. Die Jncorporirung des Landes in das römische
Weltreich vollendete diesen Proceß der Umgestaltung, so weit es der Charakter
der Nation zuließ.

Besonders starke Eroberungen machte selbstverständlich die griechische Bil¬
dung unter den außerhalb Palästinas angesiedelten Juden. Viele von diesen
verlernten, und zwar selbst in dem nähen Aegypten, die Sprache der Heimath
(die ohnehin nicht mehr das Hebräische, sondern ein andrer, weniger edler Dia¬
lekt des Semitischen war) und dies in dem Maße, daß für sie eine eigne Ueber¬
setzung der heiligen Schriften, die Septuaginta nöthig wurden Sie bequemten
sich vielfach ausländischem Brauch an. In ähnlicher Weise, wie jetzt deutsche
Auswanderer in Amerika ihre Namen cmglisiren, verwandelte sich der im heid-


Grenzboten III. 1863. 51
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[0411] Eine neue Meinung über Pharisäer und Sadduciier. Sadducäer und Pharisäer. Von Abraham Geiger. Breslau, Schlettersche Buchhandlung. 1863. Um die erste Periode der Entstehung des Christenthums recht zu begreifen, bedürfen wir vor Allem einer umfassenden Kenntniß der politischen und religiösen Zustände des damaligen Jerusalem, der Mischung der verschiedenen Bildungs¬ sphären in der Stadt und dem ganzen Lande und der Stellung der im Lauf der vorhergehenden Jahrhunderte entstandenen Sekten und Parteien im jüdischen Volke. In Bezug hierauf ist zunächst zu berücksichtigen, daß die Juden zur Zeit Jesu nicht entfernt mehr die alten Kinder Israel waren, die sich ihrerseits we¬ sentlich von den Hebräern der Urzeit unterschieden hatten. Sie werden viel¬ mehr in vielen Zügen den heutigen Juden alten Schlags, wie sie in Polen leben, ähnlicher gewesen sein, als dem Volte vor dem Exil. Auf alle Fälle hatte die Nation während der Periode ihrer Verbannung im Nordosten, unter Völkern nichtsemitischen Stammes Weltlufr geathmet, dann unter der Herrschaft der ägyptischen und syrischen Könige macedonischer Herkunft einerseits zahlreiche mit dem Mutterland in steter Verbindung bleibende, auf dieses einwirkende Colonien in die Fremde gesandt, andrerseits starke Ströme nichtjüdischer Ein¬ wanderung in ihr Land aufgenommen und endlich sogar in dem Volke von Eton einen ganz fremden Stamm sich einverleibt, der ihr zuletzt eines seiner Ge¬ schlechter zu Herrschern gab. Die Jncorporirung des Landes in das römische Weltreich vollendete diesen Proceß der Umgestaltung, so weit es der Charakter der Nation zuließ. Besonders starke Eroberungen machte selbstverständlich die griechische Bil¬ dung unter den außerhalb Palästinas angesiedelten Juden. Viele von diesen verlernten, und zwar selbst in dem nähen Aegypten, die Sprache der Heimath (die ohnehin nicht mehr das Hebräische, sondern ein andrer, weniger edler Dia¬ lekt des Semitischen war) und dies in dem Maße, daß für sie eine eigne Ueber¬ setzung der heiligen Schriften, die Septuaginta nöthig wurden Sie bequemten sich vielfach ausländischem Brauch an. In ähnlicher Weise, wie jetzt deutsche Auswanderer in Amerika ihre Namen cmglisiren, verwandelte sich der im heid- Grenzboten III. 1863. 51

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/411>, abgerufen am 29.04.2024.