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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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Die deutsche Kunst und Ännlvnchö Zeitalter der Reformation.

Es war ein kühner Gedanke, den man vor Jahren in Berlin faßte und
alsbald auszuführen beschloß, im Treppenhause des neuen Museums "die ge-
sammte Culturentwickelung der Menschheit in ihren geschichtlichen Hauptphasen"
zur Darstellung zu bringen. An dem Hauptsitze der norddeutschen Intelligenz
wollte man auch auf dem Gebiete der Kunst durch die That beweisen, daß
endlich der menschliche Geist zur Reife und Selbständigkeit gelangt sei. Es
sollte sich zeigen, daß nicht .mehr die heiteren Gestalten einer spielenden Mythen-
Welt und die religiösen Vorstellungen eines jenseitigen Reiches seine Phantasie
erfüllen, sondern daß er von der geschichtlichen Wirklichkeit als von der wah¬
ren Heimath des Menschen in der Kunst wie in der Wissenschaft Besitz ergreife.
Die Errungenschaft der modernen Philosophie, daß im Verlauf der Weltgeschichte
der menschliche Geist fortschreitend sein eignes Wesen entwickele, daß die Götter-
kreise der verschiedenen Zeitalter ebensowohl wie die Handlungen und Schick¬
sale der Nationen nur seine Erzeugnisse auf den verschiedenen Stufen seines
Fortganges seien, daß ebendeshalb der Mensch erst im Verständniß der Ge>
schichte zu sich selbst und auf seine eigenen Füße komme -- diese Einsicht, eben
erst aus dem Kopfe des Denkers hervorgegangen, sollte unverzüglich an den
öffentlichen Wänden ihren sichtbaren Ausdruck erhalten.

Nun schien auch der Kunst geholfen. Diese hatte durch die neue Welt¬
anschauung, welche die Phantasie entvölkerte und auf das greifbare Diesseits
verwies, vorerst nichts gewonnen, dagegen ihren ganzen bisherigen Besitz ein¬
gebüßt. Den Gestatte", die sie Jahrhunderte lang in sich getragen, war die
Seele genommen :


"Und der alten Götter bunt Gewimmel
Hat sogleich das stille Haus geleert."

In der Gegenwart, die von der Staatsmaschine bis zum Frack mit Selbst-
Zufriedenheit den Charakter der knappsten, überlegensten Nüchternheit zur Schau
trägt, konnte sie keinen Ersatz finden. Aber die Geschichte als das ächte, un-
vergängliche Reich des menschlichen Geistes war ja entdeckt, und an die Kunst,
die jung und unreif, verlassen und rathlos bei Seite stand, erging nun


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Die deutsche Kunst und Ännlvnchö Zeitalter der Reformation.

Es war ein kühner Gedanke, den man vor Jahren in Berlin faßte und
alsbald auszuführen beschloß, im Treppenhause des neuen Museums „die ge-
sammte Culturentwickelung der Menschheit in ihren geschichtlichen Hauptphasen"
zur Darstellung zu bringen. An dem Hauptsitze der norddeutschen Intelligenz
wollte man auch auf dem Gebiete der Kunst durch die That beweisen, daß
endlich der menschliche Geist zur Reife und Selbständigkeit gelangt sei. Es
sollte sich zeigen, daß nicht .mehr die heiteren Gestalten einer spielenden Mythen-
Welt und die religiösen Vorstellungen eines jenseitigen Reiches seine Phantasie
erfüllen, sondern daß er von der geschichtlichen Wirklichkeit als von der wah¬
ren Heimath des Menschen in der Kunst wie in der Wissenschaft Besitz ergreife.
Die Errungenschaft der modernen Philosophie, daß im Verlauf der Weltgeschichte
der menschliche Geist fortschreitend sein eignes Wesen entwickele, daß die Götter-
kreise der verschiedenen Zeitalter ebensowohl wie die Handlungen und Schick¬
sale der Nationen nur seine Erzeugnisse auf den verschiedenen Stufen seines
Fortganges seien, daß ebendeshalb der Mensch erst im Verständniß der Ge>
schichte zu sich selbst und auf seine eigenen Füße komme — diese Einsicht, eben
erst aus dem Kopfe des Denkers hervorgegangen, sollte unverzüglich an den
öffentlichen Wänden ihren sichtbaren Ausdruck erhalten.

Nun schien auch der Kunst geholfen. Diese hatte durch die neue Welt¬
anschauung, welche die Phantasie entvölkerte und auf das greifbare Diesseits
verwies, vorerst nichts gewonnen, dagegen ihren ganzen bisherigen Besitz ein¬
gebüßt. Den Gestatte», die sie Jahrhunderte lang in sich getragen, war die
Seele genommen :


„Und der alten Götter bunt Gewimmel
Hat sogleich das stille Haus geleert."

In der Gegenwart, die von der Staatsmaschine bis zum Frack mit Selbst-
Zufriedenheit den Charakter der knappsten, überlegensten Nüchternheit zur Schau
trägt, konnte sie keinen Ersatz finden. Aber die Geschichte als das ächte, un-
vergängliche Reich des menschlichen Geistes war ja entdeckt, und an die Kunst,
die jung und unreif, verlassen und rathlos bei Seite stand, erging nun


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[0249] Die deutsche Kunst und Ännlvnchö Zeitalter der Reformation. Es war ein kühner Gedanke, den man vor Jahren in Berlin faßte und alsbald auszuführen beschloß, im Treppenhause des neuen Museums „die ge- sammte Culturentwickelung der Menschheit in ihren geschichtlichen Hauptphasen" zur Darstellung zu bringen. An dem Hauptsitze der norddeutschen Intelligenz wollte man auch auf dem Gebiete der Kunst durch die That beweisen, daß endlich der menschliche Geist zur Reife und Selbständigkeit gelangt sei. Es sollte sich zeigen, daß nicht .mehr die heiteren Gestalten einer spielenden Mythen- Welt und die religiösen Vorstellungen eines jenseitigen Reiches seine Phantasie erfüllen, sondern daß er von der geschichtlichen Wirklichkeit als von der wah¬ ren Heimath des Menschen in der Kunst wie in der Wissenschaft Besitz ergreife. Die Errungenschaft der modernen Philosophie, daß im Verlauf der Weltgeschichte der menschliche Geist fortschreitend sein eignes Wesen entwickele, daß die Götter- kreise der verschiedenen Zeitalter ebensowohl wie die Handlungen und Schick¬ sale der Nationen nur seine Erzeugnisse auf den verschiedenen Stufen seines Fortganges seien, daß ebendeshalb der Mensch erst im Verständniß der Ge> schichte zu sich selbst und auf seine eigenen Füße komme — diese Einsicht, eben erst aus dem Kopfe des Denkers hervorgegangen, sollte unverzüglich an den öffentlichen Wänden ihren sichtbaren Ausdruck erhalten. Nun schien auch der Kunst geholfen. Diese hatte durch die neue Welt¬ anschauung, welche die Phantasie entvölkerte und auf das greifbare Diesseits verwies, vorerst nichts gewonnen, dagegen ihren ganzen bisherigen Besitz ein¬ gebüßt. Den Gestatte», die sie Jahrhunderte lang in sich getragen, war die Seele genommen : „Und der alten Götter bunt Gewimmel Hat sogleich das stille Haus geleert." In der Gegenwart, die von der Staatsmaschine bis zum Frack mit Selbst- Zufriedenheit den Charakter der knappsten, überlegensten Nüchternheit zur Schau trägt, konnte sie keinen Ersatz finden. Aber die Geschichte als das ächte, un- vergängliche Reich des menschlichen Geistes war ja entdeckt, und an die Kunst, die jung und unreif, verlassen und rathlos bei Seite stand, erging nun Greuzbotc» l. 1Lti!i. 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/249>, abgerufen am 23.04.2024.