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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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der Dichter, der so schmerzlich frug nach dem Nationalcharakter der Deutschen
-- hätte er lesen können in der Seele jener preußischen Soldaten, die bei
Roßbach die Franzosen warfen und bei Leuthen in der Winternackt das "Herr
Gott Dich loben wir" sangen, gewiß, er hätte begriffen: die lebendige Staats¬
gesinnung, die er suchte, sehr unreif war sie, doch sie war im Werden, So
standen die Beiden im Nebel der Nacht -- der König, der einen Lessing suchte
für unsre Kunst, und der Dichter, einen Friedrich suchend für unsern Staat.
Inzwischen ist es Tag geworden, die Nebel sind gefallen, und wir sehen die
Beiden dicht neben einander auf demselben Wege -- den Künstler, der unsrer
Dichtung die Bahn gebrochen, und den Fürsten, mit dem das moderne Staats¬
leben der Deutschen beginnt.

Und wäre es denn ein Zufall, daß achtzig Jahre nach Lessings Tode gerade
sein Bildniß den Anstoß gab zu einem heilsamen Umschwunge unsrer Bildner¬
kunst? Versuchen Sie sich zu versenken in die Seele des Künstlers, dem jene
Aufgabe ward. Sollte er Lessing bilden in der Toga-- ihn, der das gespreizte
Römerthum der Franzosen erbarmungslos verspottet? Oder in dem beliebten
Theatermantel -- ihn, der im Leben jeden falschen Schein verschmäht? Da
blieb kein Ausweg: kraftvoll, schlicht und wahrhaft wie er selber -- oder gar
nicht mußte Lessings Bild erscheinen. Und der glückliche Entschluß einmal ge¬
faßt, hat unserm Rietschel jedes Glück des Genius gelächelt, aus jeder Noth
ward ihm eine Tugend. Der steife Haarbeutel ward ihm ein Anlaß, die voll¬
endeten Linien des wallenden Haars zu zeichnen, und die Enge des kurzen
Beinkleids erlaubte ihm, die gedrungene Kraft der Glieder zu zeigen. So
sehen wir Lessings Bildniß vor uns -- die erste Bildsäule der Deutschen, darin
der entschlossene wahrhaftige Realismus der Gegenwart sich ehrlich offenbart --
schmucklos und stark, gehobenen Hauptes, und diese trotzigen Lippen scheinen
zu reden:


was braucht die Nachwelt, war sie tritt, zu wissen,
weiß ich nur wer ich bin.



Ein oberflächlicher Beobachter unsrer Zustände könnte leicht zu dem Ge¬
danken verführt werden, daß nach den kurzen Jahren der Erregung wieder jene
politische Oede, jene Abstumpfung gegen das öffentliche Leben'de/Nation ein¬
getreten sei, wie sie die zehnjährige Ncactionsperivde kennzeichnete. Die Bürger-
Versammlungen debattiren über die Gasbeleuchtung, und die Tagesblätter be-


der Dichter, der so schmerzlich frug nach dem Nationalcharakter der Deutschen
— hätte er lesen können in der Seele jener preußischen Soldaten, die bei
Roßbach die Franzosen warfen und bei Leuthen in der Winternackt das „Herr
Gott Dich loben wir" sangen, gewiß, er hätte begriffen: die lebendige Staats¬
gesinnung, die er suchte, sehr unreif war sie, doch sie war im Werden, So
standen die Beiden im Nebel der Nacht — der König, der einen Lessing suchte
für unsre Kunst, und der Dichter, einen Friedrich suchend für unsern Staat.
Inzwischen ist es Tag geworden, die Nebel sind gefallen, und wir sehen die
Beiden dicht neben einander auf demselben Wege — den Künstler, der unsrer
Dichtung die Bahn gebrochen, und den Fürsten, mit dem das moderne Staats¬
leben der Deutschen beginnt.

Und wäre es denn ein Zufall, daß achtzig Jahre nach Lessings Tode gerade
sein Bildniß den Anstoß gab zu einem heilsamen Umschwunge unsrer Bildner¬
kunst? Versuchen Sie sich zu versenken in die Seele des Künstlers, dem jene
Aufgabe ward. Sollte er Lessing bilden in der Toga— ihn, der das gespreizte
Römerthum der Franzosen erbarmungslos verspottet? Oder in dem beliebten
Theatermantel — ihn, der im Leben jeden falschen Schein verschmäht? Da
blieb kein Ausweg: kraftvoll, schlicht und wahrhaft wie er selber — oder gar
nicht mußte Lessings Bild erscheinen. Und der glückliche Entschluß einmal ge¬
faßt, hat unserm Rietschel jedes Glück des Genius gelächelt, aus jeder Noth
ward ihm eine Tugend. Der steife Haarbeutel ward ihm ein Anlaß, die voll¬
endeten Linien des wallenden Haars zu zeichnen, und die Enge des kurzen
Beinkleids erlaubte ihm, die gedrungene Kraft der Glieder zu zeigen. So
sehen wir Lessings Bildniß vor uns — die erste Bildsäule der Deutschen, darin
der entschlossene wahrhaftige Realismus der Gegenwart sich ehrlich offenbart —
schmucklos und stark, gehobenen Hauptes, und diese trotzigen Lippen scheinen
zu reden:


was braucht die Nachwelt, war sie tritt, zu wissen,
weiß ich nur wer ich bin.



Ein oberflächlicher Beobachter unsrer Zustände könnte leicht zu dem Ge¬
danken verführt werden, daß nach den kurzen Jahren der Erregung wieder jene
politische Oede, jene Abstumpfung gegen das öffentliche Leben'de/Nation ein¬
getreten sei, wie sie die zehnjährige Ncactionsperivde kennzeichnete. Die Bürger-
Versammlungen debattiren über die Gasbeleuchtung, und die Tagesblätter be-


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[0324] der Dichter, der so schmerzlich frug nach dem Nationalcharakter der Deutschen — hätte er lesen können in der Seele jener preußischen Soldaten, die bei Roßbach die Franzosen warfen und bei Leuthen in der Winternackt das „Herr Gott Dich loben wir" sangen, gewiß, er hätte begriffen: die lebendige Staats¬ gesinnung, die er suchte, sehr unreif war sie, doch sie war im Werden, So standen die Beiden im Nebel der Nacht — der König, der einen Lessing suchte für unsre Kunst, und der Dichter, einen Friedrich suchend für unsern Staat. Inzwischen ist es Tag geworden, die Nebel sind gefallen, und wir sehen die Beiden dicht neben einander auf demselben Wege — den Künstler, der unsrer Dichtung die Bahn gebrochen, und den Fürsten, mit dem das moderne Staats¬ leben der Deutschen beginnt. Und wäre es denn ein Zufall, daß achtzig Jahre nach Lessings Tode gerade sein Bildniß den Anstoß gab zu einem heilsamen Umschwunge unsrer Bildner¬ kunst? Versuchen Sie sich zu versenken in die Seele des Künstlers, dem jene Aufgabe ward. Sollte er Lessing bilden in der Toga— ihn, der das gespreizte Römerthum der Franzosen erbarmungslos verspottet? Oder in dem beliebten Theatermantel — ihn, der im Leben jeden falschen Schein verschmäht? Da blieb kein Ausweg: kraftvoll, schlicht und wahrhaft wie er selber — oder gar nicht mußte Lessings Bild erscheinen. Und der glückliche Entschluß einmal ge¬ faßt, hat unserm Rietschel jedes Glück des Genius gelächelt, aus jeder Noth ward ihm eine Tugend. Der steife Haarbeutel ward ihm ein Anlaß, die voll¬ endeten Linien des wallenden Haars zu zeichnen, und die Enge des kurzen Beinkleids erlaubte ihm, die gedrungene Kraft der Glieder zu zeigen. So sehen wir Lessings Bildniß vor uns — die erste Bildsäule der Deutschen, darin der entschlossene wahrhaftige Realismus der Gegenwart sich ehrlich offenbart — schmucklos und stark, gehobenen Hauptes, und diese trotzigen Lippen scheinen zu reden: was braucht die Nachwelt, war sie tritt, zu wissen, weiß ich nur wer ich bin. Ein oberflächlicher Beobachter unsrer Zustände könnte leicht zu dem Ge¬ danken verführt werden, daß nach den kurzen Jahren der Erregung wieder jene politische Oede, jene Abstumpfung gegen das öffentliche Leben'de/Nation ein¬ getreten sei, wie sie die zehnjährige Ncactionsperivde kennzeichnete. Die Bürger- Versammlungen debattiren über die Gasbeleuchtung, und die Tagesblätter be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/324>, abgerufen am 23.04.2024.