Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

hat, über den angegebenen Zeitpunkt hinauszugehen. Diese Zeit empfiehlt
sich also auch in praktischer Rücksicht besonders gut als Grenzscheide.

Es ergibt sich aus unseren Betrachtungen, daß die Grenze zwischen Alter¬
thum und Mittelalter auf dem Gebiete des Staats, der Kirche und der Literatur
nicht vor dem letzten Drittel des sechsten und nicht nach dem ersten Drittel deS
siebenten Jahrhunderts angesetzt werden darf, und zwar hat sich der Umschwung
im Abendlande früher vollendet als im Orient. Die in dieser Hinsicht epoche¬
machenden Ereignisse sind für das Abendland der Abschluß der italienischen
Eroberungen der Langobarden 572, für das oströmische Reich die Thronbestei¬
gung des Tiberius 378, für den eigentlichen Orient die Eroberung des persi¬
schen Reichs und Aegyptens durch die Araber 641. Das Angemessenste würde
also sein, von Einzelheiten ganz abstrahirend das Jahr 600 als Grenze zu
nehmen. Soll aber, da die Phantasie nun einmal ein greifbares Ereigniß
braucht, eines der drei gewählt werden, so kann die Wahl nicht zweifelhaft
sein: die wenn auch noch so große Bedeutung der Araber für das Mittelalter
tritt hinter der der Germanen zurück. Wir entscheiden uns also für das Jahr
672, das sich auch noch dadurch empfiehlt, daß es in die nächste Nähe des
Alfred v. Gutschmid. Geburtsjahrs des Propheten fällt.




Tie Polen und die preußische Regierung.

Selten hat es zwei politische Factionen desselben Volkes gegeben, deren
gegenseitiger Haß und deren verschiedene Zielpunkte so verhängnißvoll für die
Sache ihres Vaterlandes wurden, als in Polen die der Conservativen und der
Exaltirtcn. Mehr als einmal hat der Grimm innern Partcihasses ein lebendes
Staatswesen zum Untergänge gebracht, aber fast immer vermochte das größte
nationale Unglück, fremde Knechtschaft, auch erbitterte Gegner zu gemein-
samen Maßregeln gegen den fremden Feind zu vereinigen. Das unabänderliche
Schicksal der polnischen Parteien scheint zu sein, daß die Kinder desselben Landes
einander die aufgebende Saat ihrer Hoffnungen niedertreten.

In Polen war seit dem Tode des Kaiser Nikolaus den Konservativen
und Exaltirtcn die Hoffnung hoch gestiegen. Die Schwäche Rußlands trat sehr
auffällig zu Tage, die größten socialen Umwälzungen hatten vom weißen bis


44"

hat, über den angegebenen Zeitpunkt hinauszugehen. Diese Zeit empfiehlt
sich also auch in praktischer Rücksicht besonders gut als Grenzscheide.

Es ergibt sich aus unseren Betrachtungen, daß die Grenze zwischen Alter¬
thum und Mittelalter auf dem Gebiete des Staats, der Kirche und der Literatur
nicht vor dem letzten Drittel des sechsten und nicht nach dem ersten Drittel deS
siebenten Jahrhunderts angesetzt werden darf, und zwar hat sich der Umschwung
im Abendlande früher vollendet als im Orient. Die in dieser Hinsicht epoche¬
machenden Ereignisse sind für das Abendland der Abschluß der italienischen
Eroberungen der Langobarden 572, für das oströmische Reich die Thronbestei¬
gung des Tiberius 378, für den eigentlichen Orient die Eroberung des persi¬
schen Reichs und Aegyptens durch die Araber 641. Das Angemessenste würde
also sein, von Einzelheiten ganz abstrahirend das Jahr 600 als Grenze zu
nehmen. Soll aber, da die Phantasie nun einmal ein greifbares Ereigniß
braucht, eines der drei gewählt werden, so kann die Wahl nicht zweifelhaft
sein: die wenn auch noch so große Bedeutung der Araber für das Mittelalter
tritt hinter der der Germanen zurück. Wir entscheiden uns also für das Jahr
672, das sich auch noch dadurch empfiehlt, daß es in die nächste Nähe des
Alfred v. Gutschmid. Geburtsjahrs des Propheten fällt.




Tie Polen und die preußische Regierung.

Selten hat es zwei politische Factionen desselben Volkes gegeben, deren
gegenseitiger Haß und deren verschiedene Zielpunkte so verhängnißvoll für die
Sache ihres Vaterlandes wurden, als in Polen die der Conservativen und der
Exaltirtcn. Mehr als einmal hat der Grimm innern Partcihasses ein lebendes
Staatswesen zum Untergänge gebracht, aber fast immer vermochte das größte
nationale Unglück, fremde Knechtschaft, auch erbitterte Gegner zu gemein-
samen Maßregeln gegen den fremden Feind zu vereinigen. Das unabänderliche
Schicksal der polnischen Parteien scheint zu sein, daß die Kinder desselben Landes
einander die aufgebende Saat ihrer Hoffnungen niedertreten.

In Polen war seit dem Tode des Kaiser Nikolaus den Konservativen
und Exaltirtcn die Hoffnung hoch gestiegen. Die Schwäche Rußlands trat sehr
auffällig zu Tage, die größten socialen Umwälzungen hatten vom weißen bis


44"
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0355" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/187849"/>
          <p xml:id="ID_1296" prev="#ID_1295"> hat, über den angegebenen Zeitpunkt hinauszugehen. Diese Zeit empfiehlt<lb/>
sich also auch in praktischer Rücksicht besonders gut als Grenzscheide.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1297"> Es ergibt sich aus unseren Betrachtungen, daß die Grenze zwischen Alter¬<lb/>
thum und Mittelalter auf dem Gebiete des Staats, der Kirche und der Literatur<lb/>
nicht vor dem letzten Drittel des sechsten und nicht nach dem ersten Drittel deS<lb/>
siebenten Jahrhunderts angesetzt werden darf, und zwar hat sich der Umschwung<lb/>
im Abendlande früher vollendet als im Orient. Die in dieser Hinsicht epoche¬<lb/>
machenden Ereignisse sind für das Abendland der Abschluß der italienischen<lb/>
Eroberungen der Langobarden 572, für das oströmische Reich die Thronbestei¬<lb/>
gung des Tiberius 378, für den eigentlichen Orient die Eroberung des persi¬<lb/>
schen Reichs und Aegyptens durch die Araber 641. Das Angemessenste würde<lb/>
also sein, von Einzelheiten ganz abstrahirend das Jahr 600 als Grenze zu<lb/>
nehmen. Soll aber, da die Phantasie nun einmal ein greifbares Ereigniß<lb/>
braucht, eines der drei gewählt werden, so kann die Wahl nicht zweifelhaft<lb/>
sein: die wenn auch noch so große Bedeutung der Araber für das Mittelalter<lb/>
tritt hinter der der Germanen zurück. Wir entscheiden uns also für das Jahr<lb/>
672, das sich auch noch dadurch empfiehlt, daß es in die nächste Nähe des<lb/><note type="byline"> Alfred v. Gutschmid.</note> Geburtsjahrs des Propheten fällt. </p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Tie Polen und die preußische Regierung.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1298"> Selten hat es zwei politische Factionen desselben Volkes gegeben, deren<lb/>
gegenseitiger Haß und deren verschiedene Zielpunkte so verhängnißvoll für die<lb/>
Sache ihres Vaterlandes wurden, als in Polen die der Conservativen und der<lb/>
Exaltirtcn. Mehr als einmal hat der Grimm innern Partcihasses ein lebendes<lb/>
Staatswesen zum Untergänge gebracht, aber fast immer vermochte das größte<lb/>
nationale Unglück, fremde Knechtschaft, auch erbitterte Gegner zu gemein-<lb/>
samen Maßregeln gegen den fremden Feind zu vereinigen. Das unabänderliche<lb/>
Schicksal der polnischen Parteien scheint zu sein, daß die Kinder desselben Landes<lb/>
einander die aufgebende Saat ihrer Hoffnungen niedertreten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1299" next="#ID_1300"> In Polen war seit dem Tode des Kaiser Nikolaus den Konservativen<lb/>
und Exaltirtcn die Hoffnung hoch gestiegen. Die Schwäche Rußlands trat sehr<lb/>
auffällig zu Tage, die größten socialen Umwälzungen hatten vom weißen bis</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 44"</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0355] hat, über den angegebenen Zeitpunkt hinauszugehen. Diese Zeit empfiehlt sich also auch in praktischer Rücksicht besonders gut als Grenzscheide. Es ergibt sich aus unseren Betrachtungen, daß die Grenze zwischen Alter¬ thum und Mittelalter auf dem Gebiete des Staats, der Kirche und der Literatur nicht vor dem letzten Drittel des sechsten und nicht nach dem ersten Drittel deS siebenten Jahrhunderts angesetzt werden darf, und zwar hat sich der Umschwung im Abendlande früher vollendet als im Orient. Die in dieser Hinsicht epoche¬ machenden Ereignisse sind für das Abendland der Abschluß der italienischen Eroberungen der Langobarden 572, für das oströmische Reich die Thronbestei¬ gung des Tiberius 378, für den eigentlichen Orient die Eroberung des persi¬ schen Reichs und Aegyptens durch die Araber 641. Das Angemessenste würde also sein, von Einzelheiten ganz abstrahirend das Jahr 600 als Grenze zu nehmen. Soll aber, da die Phantasie nun einmal ein greifbares Ereigniß braucht, eines der drei gewählt werden, so kann die Wahl nicht zweifelhaft sein: die wenn auch noch so große Bedeutung der Araber für das Mittelalter tritt hinter der der Germanen zurück. Wir entscheiden uns also für das Jahr 672, das sich auch noch dadurch empfiehlt, daß es in die nächste Nähe des Alfred v. Gutschmid. Geburtsjahrs des Propheten fällt. Tie Polen und die preußische Regierung. Selten hat es zwei politische Factionen desselben Volkes gegeben, deren gegenseitiger Haß und deren verschiedene Zielpunkte so verhängnißvoll für die Sache ihres Vaterlandes wurden, als in Polen die der Conservativen und der Exaltirtcn. Mehr als einmal hat der Grimm innern Partcihasses ein lebendes Staatswesen zum Untergänge gebracht, aber fast immer vermochte das größte nationale Unglück, fremde Knechtschaft, auch erbitterte Gegner zu gemein- samen Maßregeln gegen den fremden Feind zu vereinigen. Das unabänderliche Schicksal der polnischen Parteien scheint zu sein, daß die Kinder desselben Landes einander die aufgebende Saat ihrer Hoffnungen niedertreten. In Polen war seit dem Tode des Kaiser Nikolaus den Konservativen und Exaltirtcn die Hoffnung hoch gestiegen. Die Schwäche Rußlands trat sehr auffällig zu Tage, die größten socialen Umwälzungen hatten vom weißen bis 44"

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/355
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/355>, abgerufen am 19.04.2024.