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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band.

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Oestreich und die orientalische Frage.

Als im Jahre 1839 der Conflict zwischen dem Sultan Mahmud und
Mehemed Ali die orientalische Frage auf die Tagesordnung der europäischen
Politik brachte, ging das Festreden Frankreichs dahin, die Spitze der diploma¬
tischen Action der Großmächte gegen Rußland als den natürlichen Feind der
ottomanischen Psorte zu kehren, seinerseits aber die allgemeine Furcht vor den
russischen Plänen zu benutzen, um durch Sclbständigmachung Aegyptens den
Zerstückclungsproceß des ottomanischen Reiches weiter zu führen und sich in
dem Pascha einen ergebenen Vasallen zu erziehen. Lord Palmerston durch¬
schaute sofort den in sich widerspruchsvollen Plan und säumte nicht, die
Schwäche desselben zu benutzen, um mit Hilfe Rußlands, das aus Mißtrauen
vor dem französischen Rivalen und aus principieller Abneigung gegen das
Juliköniglhum sich vorübergehend in den Kreis der türkcnfreundlichcn Mächte
ziehen ließ, Frankreich die schwerste diplomatische Niederlage zu bereite", die
es seit dem Sturze des Kaiserreichs erlitten hatte.

Der Verlauf dieser in einer Reihe von Aufsätzen in diesen Blättern nach
Guizots Memoiren dargestellten Begebenheiten läßt uns deutlich die Gefahren
erkennen, mit denen die orientalische Frage jeden Staat bedroht, der die Aus¬
lösung des ottomanischen Reiches beschleunigen und die Zerrüttung und Schwäche
desselben zu seinem Vortheil ausbeuten will. Seit achtzig Jahren ist die
orientalische Frage einer der Angelpunkte der europäischen Politik und zwar der¬
jenige, der, die furchtbarsten Erschütterungen des Kontinents überlebend, nach
jeder europäischen Krisis von neuem in den Vordergrund tritt, ohne von sei¬
nem zugleich verlockenden und tückischen Charakter das Mindeste einzubüßen.
Waren doch Napoleons Blicke inmitten seiner glänzendsten Erfolge stets auf
den Orient gerichtet, und lag doch gerade darin, daß er sich mit Alexander
nicht über die Theilung der türkischen Beute vereinigen konnte, die Ursache der
Auflösung des Bündnisses zwischen den beiden mächtigen Rivalen.

Indessen ließen schon die Verhandlungen Napoleons und Alexanders in
Erfurt - klar erkennen, daß Frankreich und Rußland durch das gemeinsame
Band der Begehrlichkeit in dieser Frage zusammengehalten werden. Beide
Mächte sahen die Türkei als ein Beutestück an; nur darüber waren und sind
sie uneinig, wie die Beute unter ihnen zu vertheilen sei. Beide gehen von
der Ansicht aus, daß die Türkei unrettbar dem Untergänge verfallen sei. Beide
suchen den innern Auflösungsproceß der Türkei im Gange zu halten, um im
geeigneten Augenblicke den vernichtenden Stoß auf das wankende Gebäude zu


Grenzboten II. 28
Oestreich und die orientalische Frage.

Als im Jahre 1839 der Conflict zwischen dem Sultan Mahmud und
Mehemed Ali die orientalische Frage auf die Tagesordnung der europäischen
Politik brachte, ging das Festreden Frankreichs dahin, die Spitze der diploma¬
tischen Action der Großmächte gegen Rußland als den natürlichen Feind der
ottomanischen Psorte zu kehren, seinerseits aber die allgemeine Furcht vor den
russischen Plänen zu benutzen, um durch Sclbständigmachung Aegyptens den
Zerstückclungsproceß des ottomanischen Reiches weiter zu führen und sich in
dem Pascha einen ergebenen Vasallen zu erziehen. Lord Palmerston durch¬
schaute sofort den in sich widerspruchsvollen Plan und säumte nicht, die
Schwäche desselben zu benutzen, um mit Hilfe Rußlands, das aus Mißtrauen
vor dem französischen Rivalen und aus principieller Abneigung gegen das
Juliköniglhum sich vorübergehend in den Kreis der türkcnfreundlichcn Mächte
ziehen ließ, Frankreich die schwerste diplomatische Niederlage zu bereite», die
es seit dem Sturze des Kaiserreichs erlitten hatte.

Der Verlauf dieser in einer Reihe von Aufsätzen in diesen Blättern nach
Guizots Memoiren dargestellten Begebenheiten läßt uns deutlich die Gefahren
erkennen, mit denen die orientalische Frage jeden Staat bedroht, der die Aus¬
lösung des ottomanischen Reiches beschleunigen und die Zerrüttung und Schwäche
desselben zu seinem Vortheil ausbeuten will. Seit achtzig Jahren ist die
orientalische Frage einer der Angelpunkte der europäischen Politik und zwar der¬
jenige, der, die furchtbarsten Erschütterungen des Kontinents überlebend, nach
jeder europäischen Krisis von neuem in den Vordergrund tritt, ohne von sei¬
nem zugleich verlockenden und tückischen Charakter das Mindeste einzubüßen.
Waren doch Napoleons Blicke inmitten seiner glänzendsten Erfolge stets auf
den Orient gerichtet, und lag doch gerade darin, daß er sich mit Alexander
nicht über die Theilung der türkischen Beute vereinigen konnte, die Ursache der
Auflösung des Bündnisses zwischen den beiden mächtigen Rivalen.

Indessen ließen schon die Verhandlungen Napoleons und Alexanders in
Erfurt - klar erkennen, daß Frankreich und Rußland durch das gemeinsame
Band der Begehrlichkeit in dieser Frage zusammengehalten werden. Beide
Mächte sahen die Türkei als ein Beutestück an; nur darüber waren und sind
sie uneinig, wie die Beute unter ihnen zu vertheilen sei. Beide gehen von
der Ansicht aus, daß die Türkei unrettbar dem Untergänge verfallen sei. Beide
suchen den innern Auflösungsproceß der Türkei im Gange zu halten, um im
geeigneten Augenblicke den vernichtenden Stoß auf das wankende Gebäude zu


Grenzboten II. 28
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[0221] Oestreich und die orientalische Frage. Als im Jahre 1839 der Conflict zwischen dem Sultan Mahmud und Mehemed Ali die orientalische Frage auf die Tagesordnung der europäischen Politik brachte, ging das Festreden Frankreichs dahin, die Spitze der diploma¬ tischen Action der Großmächte gegen Rußland als den natürlichen Feind der ottomanischen Psorte zu kehren, seinerseits aber die allgemeine Furcht vor den russischen Plänen zu benutzen, um durch Sclbständigmachung Aegyptens den Zerstückclungsproceß des ottomanischen Reiches weiter zu führen und sich in dem Pascha einen ergebenen Vasallen zu erziehen. Lord Palmerston durch¬ schaute sofort den in sich widerspruchsvollen Plan und säumte nicht, die Schwäche desselben zu benutzen, um mit Hilfe Rußlands, das aus Mißtrauen vor dem französischen Rivalen und aus principieller Abneigung gegen das Juliköniglhum sich vorübergehend in den Kreis der türkcnfreundlichcn Mächte ziehen ließ, Frankreich die schwerste diplomatische Niederlage zu bereite», die es seit dem Sturze des Kaiserreichs erlitten hatte. Der Verlauf dieser in einer Reihe von Aufsätzen in diesen Blättern nach Guizots Memoiren dargestellten Begebenheiten läßt uns deutlich die Gefahren erkennen, mit denen die orientalische Frage jeden Staat bedroht, der die Aus¬ lösung des ottomanischen Reiches beschleunigen und die Zerrüttung und Schwäche desselben zu seinem Vortheil ausbeuten will. Seit achtzig Jahren ist die orientalische Frage einer der Angelpunkte der europäischen Politik und zwar der¬ jenige, der, die furchtbarsten Erschütterungen des Kontinents überlebend, nach jeder europäischen Krisis von neuem in den Vordergrund tritt, ohne von sei¬ nem zugleich verlockenden und tückischen Charakter das Mindeste einzubüßen. Waren doch Napoleons Blicke inmitten seiner glänzendsten Erfolge stets auf den Orient gerichtet, und lag doch gerade darin, daß er sich mit Alexander nicht über die Theilung der türkischen Beute vereinigen konnte, die Ursache der Auflösung des Bündnisses zwischen den beiden mächtigen Rivalen. Indessen ließen schon die Verhandlungen Napoleons und Alexanders in Erfurt - klar erkennen, daß Frankreich und Rußland durch das gemeinsame Band der Begehrlichkeit in dieser Frage zusammengehalten werden. Beide Mächte sahen die Türkei als ein Beutestück an; nur darüber waren und sind sie uneinig, wie die Beute unter ihnen zu vertheilen sei. Beide gehen von der Ansicht aus, daß die Türkei unrettbar dem Untergänge verfallen sei. Beide suchen den innern Auflösungsproceß der Türkei im Gange zu halten, um im geeigneten Augenblicke den vernichtenden Stoß auf das wankende Gebäude zu Grenzboten II. 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_360476/221>, abgerufen am 08.05.2024.