Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

lich Verständlich, wenn wir dasjenige ausscheiden, was spätere Anschauungen
und Interessen in sie hineingetragen haben. Erst durch die geschichtliche Be¬
trachtung wird das neue Testament zu einer getreuen und zuverlässigen Urkunde
des ältesten Christenthums. Aber auch der moralische Gehalt, der religiöse
Werth jener Schriften kann nicht darunter leiden, wenn sie zum Theil andere
Berfasser haben, als die katholische Tradition ihnen zuschreibt. Einen inneren
Werth haben sie ja dadurch nicht, daß sie von Aposteln herrühren; es ist ein
rein äußerlicher Vorzug, der gar nichts zu thun hat mit ihrer geistigen Rang¬
ordnung oder mit ihrer sittlichen Wirkung. Das Verhältniß des vierten Evan¬
geliums zur Offenbarung, welche die Tradition beide dem Apostel Johannes
zuschreibt, ist hiefür der sprechendste Beleg. Ist uns diese das Werk eines ech¬
ten Jüngers Jesu, jenes die Schrift eines namenlosen Mannes des zweiten
Jahrhunderts, so vermag uns diese Verschiedenheit des Ursprungs nicht in
unsrem Urtheil über den geistigen Werth beider zu beirren. Obwohl von
einem Apostel geschrieben, vertritt die Offenbarung eine Stufe des christlichen
Bewußtseins, welche dem Judenthum noch am nächsten stehend, sehr bald in
der Kirche antiquirt war und heute nur noch historische Bedeutung hat, wäh¬
rend uns im Evangelium, dessen unbekannter Verfasser mindestens ein Jahr¬
hundert vom Tode Jesu entfernt ist, die reifste Frucht der urchristlicher Ent¬
wicklung, und eine tiefere geistigere Auffassung des Christenthums entgegentritt,
als in allen anderen Schriften, welche uns der Kanon des neuen Testaments
aufbewahrt hat.




Militärische Briefe.
9.
Werth der französischen Kampfweisc.

Die geschlossene Waffenruhe hat die kriegerischen Ereignisse in Schleswig
vorläufig beendigt. Es ist sehr zweifelhaft, ob die Konferenzen auch nach
verlängerter Waffenruhe zum Frieden führen, und wir werden nach einigen
Wochen oder Monaten wahrscheinlich von Neuem über Kriegsereignisse zu be¬
richten haben; was wir mit größerer Freude thun würden, wenn dem preußi-


lich Verständlich, wenn wir dasjenige ausscheiden, was spätere Anschauungen
und Interessen in sie hineingetragen haben. Erst durch die geschichtliche Be¬
trachtung wird das neue Testament zu einer getreuen und zuverlässigen Urkunde
des ältesten Christenthums. Aber auch der moralische Gehalt, der religiöse
Werth jener Schriften kann nicht darunter leiden, wenn sie zum Theil andere
Berfasser haben, als die katholische Tradition ihnen zuschreibt. Einen inneren
Werth haben sie ja dadurch nicht, daß sie von Aposteln herrühren; es ist ein
rein äußerlicher Vorzug, der gar nichts zu thun hat mit ihrer geistigen Rang¬
ordnung oder mit ihrer sittlichen Wirkung. Das Verhältniß des vierten Evan¬
geliums zur Offenbarung, welche die Tradition beide dem Apostel Johannes
zuschreibt, ist hiefür der sprechendste Beleg. Ist uns diese das Werk eines ech¬
ten Jüngers Jesu, jenes die Schrift eines namenlosen Mannes des zweiten
Jahrhunderts, so vermag uns diese Verschiedenheit des Ursprungs nicht in
unsrem Urtheil über den geistigen Werth beider zu beirren. Obwohl von
einem Apostel geschrieben, vertritt die Offenbarung eine Stufe des christlichen
Bewußtseins, welche dem Judenthum noch am nächsten stehend, sehr bald in
der Kirche antiquirt war und heute nur noch historische Bedeutung hat, wäh¬
rend uns im Evangelium, dessen unbekannter Verfasser mindestens ein Jahr¬
hundert vom Tode Jesu entfernt ist, die reifste Frucht der urchristlicher Ent¬
wicklung, und eine tiefere geistigere Auffassung des Christenthums entgegentritt,
als in allen anderen Schriften, welche uns der Kanon des neuen Testaments
aufbewahrt hat.




Militärische Briefe.
9.
Werth der französischen Kampfweisc.

Die geschlossene Waffenruhe hat die kriegerischen Ereignisse in Schleswig
vorläufig beendigt. Es ist sehr zweifelhaft, ob die Konferenzen auch nach
verlängerter Waffenruhe zum Frieden führen, und wir werden nach einigen
Wochen oder Monaten wahrscheinlich von Neuem über Kriegsereignisse zu be¬
richten haben; was wir mit größerer Freude thun würden, wenn dem preußi-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0320" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/188881"/>
          <p xml:id="ID_1058" prev="#ID_1057"> lich Verständlich, wenn wir dasjenige ausscheiden, was spätere Anschauungen<lb/>
und Interessen in sie hineingetragen haben. Erst durch die geschichtliche Be¬<lb/>
trachtung wird das neue Testament zu einer getreuen und zuverlässigen Urkunde<lb/>
des ältesten Christenthums. Aber auch der moralische Gehalt, der religiöse<lb/>
Werth jener Schriften kann nicht darunter leiden, wenn sie zum Theil andere<lb/>
Berfasser haben, als die katholische Tradition ihnen zuschreibt. Einen inneren<lb/>
Werth haben sie ja dadurch nicht, daß sie von Aposteln herrühren; es ist ein<lb/>
rein äußerlicher Vorzug, der gar nichts zu thun hat mit ihrer geistigen Rang¬<lb/>
ordnung oder mit ihrer sittlichen Wirkung. Das Verhältniß des vierten Evan¬<lb/>
geliums zur Offenbarung, welche die Tradition beide dem Apostel Johannes<lb/>
zuschreibt, ist hiefür der sprechendste Beleg. Ist uns diese das Werk eines ech¬<lb/>
ten Jüngers Jesu, jenes die Schrift eines namenlosen Mannes des zweiten<lb/>
Jahrhunderts, so vermag uns diese Verschiedenheit des Ursprungs nicht in<lb/>
unsrem Urtheil über den geistigen Werth beider zu beirren. Obwohl von<lb/>
einem Apostel geschrieben, vertritt die Offenbarung eine Stufe des christlichen<lb/>
Bewußtseins, welche dem Judenthum noch am nächsten stehend, sehr bald in<lb/>
der Kirche antiquirt war und heute nur noch historische Bedeutung hat, wäh¬<lb/>
rend uns im Evangelium, dessen unbekannter Verfasser mindestens ein Jahr¬<lb/>
hundert vom Tode Jesu entfernt ist, die reifste Frucht der urchristlicher Ent¬<lb/>
wicklung, und eine tiefere geistigere Auffassung des Christenthums entgegentritt,<lb/>
als in allen anderen Schriften, welche uns der Kanon des neuen Testaments<lb/>
aufbewahrt hat.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Militärische Briefe.<lb/>
9.<lb/>
Werth der französischen Kampfweisc. </head><lb/>
          <p xml:id="ID_1059" next="#ID_1060"> Die geschlossene Waffenruhe hat die kriegerischen Ereignisse in Schleswig<lb/>
vorläufig beendigt. Es ist sehr zweifelhaft, ob die Konferenzen auch nach<lb/>
verlängerter Waffenruhe zum Frieden führen, und wir werden nach einigen<lb/>
Wochen oder Monaten wahrscheinlich von Neuem über Kriegsereignisse zu be¬<lb/>
richten haben; was wir mit größerer Freude thun würden, wenn dem preußi-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0320] lich Verständlich, wenn wir dasjenige ausscheiden, was spätere Anschauungen und Interessen in sie hineingetragen haben. Erst durch die geschichtliche Be¬ trachtung wird das neue Testament zu einer getreuen und zuverlässigen Urkunde des ältesten Christenthums. Aber auch der moralische Gehalt, der religiöse Werth jener Schriften kann nicht darunter leiden, wenn sie zum Theil andere Berfasser haben, als die katholische Tradition ihnen zuschreibt. Einen inneren Werth haben sie ja dadurch nicht, daß sie von Aposteln herrühren; es ist ein rein äußerlicher Vorzug, der gar nichts zu thun hat mit ihrer geistigen Rang¬ ordnung oder mit ihrer sittlichen Wirkung. Das Verhältniß des vierten Evan¬ geliums zur Offenbarung, welche die Tradition beide dem Apostel Johannes zuschreibt, ist hiefür der sprechendste Beleg. Ist uns diese das Werk eines ech¬ ten Jüngers Jesu, jenes die Schrift eines namenlosen Mannes des zweiten Jahrhunderts, so vermag uns diese Verschiedenheit des Ursprungs nicht in unsrem Urtheil über den geistigen Werth beider zu beirren. Obwohl von einem Apostel geschrieben, vertritt die Offenbarung eine Stufe des christlichen Bewußtseins, welche dem Judenthum noch am nächsten stehend, sehr bald in der Kirche antiquirt war und heute nur noch historische Bedeutung hat, wäh¬ rend uns im Evangelium, dessen unbekannter Verfasser mindestens ein Jahr¬ hundert vom Tode Jesu entfernt ist, die reifste Frucht der urchristlicher Ent¬ wicklung, und eine tiefere geistigere Auffassung des Christenthums entgegentritt, als in allen anderen Schriften, welche uns der Kanon des neuen Testaments aufbewahrt hat. Militärische Briefe. 9. Werth der französischen Kampfweisc. Die geschlossene Waffenruhe hat die kriegerischen Ereignisse in Schleswig vorläufig beendigt. Es ist sehr zweifelhaft, ob die Konferenzen auch nach verlängerter Waffenruhe zum Frieden führen, und wir werden nach einigen Wochen oder Monaten wahrscheinlich von Neuem über Kriegsereignisse zu be¬ richten haben; was wir mit größerer Freude thun würden, wenn dem preußi-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/320
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/320>, abgerufen am 06.05.2024.