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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band.

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als dieser sich nicht erfüllen wollte, verloren hätte. Das Christenthum als ein
wesentlich Neues begriffen und vom Judenthum losgerissen zu haben, ist die
weltgeschichtliche That des Apostels Paulus.

lSchluß folgt.)




Die Anfänge unsrer Literatur.

lieber den Ursprung der deutschen Literatur, Von Wilhelm Scherer. Berlin, Verlag
von G. Reimer. 1864.

Eine sehr interessante kleine Schrift, welche in schöner klarer Sprache den
Gewinn eines Theils der Forschungen ausdrückt, die in den von Müllenhoff
und Scherer herausgegebenen "Denkmälern deutscher Poesie und Prosa aus dem
achten bis zwölften Jahrhundert" niedergelegt sind. Da sie über die Urzeit
unsrer Literatur in verschiedenen Beziehungen neue Aufschlüsse enthält, wird
ein Blick auf die Grundzüge derselben nützlich und willkommen sein.

Die Poesie eines Volkes ist so alt wie dessen Sprache. Seine Literatur
dagegen tritt unter bestimmten Bedingungen und aus bestimmte Anlässe hin in
einem historisch sixirbaren Moment aus dem Gesammtleben der Nation hervor.
Dieser Moment ist für die Deutschen die Zeit Karls des Großen. Auf ein
bienenstockartiges Wachsen der germanischen Volker war der unwiderstehliche
Drang derselben zum Ausschwärmen in die glanzvolle römische Welt und auf
diese Bewegung wieder eine dritte Periode voll neuer und selbständiger Bildungen
gefolgt, von denen die wichtigste das Frankenreich war, in welchem zuerst ein
germanischer Stamm annectirend unter den übrigen Stämmen der Nation auf¬
trat. Bundesgenossen waren ihm dabei das von angelsächsischen Mönchen in
das Innere Deutschlands getragene Christenthum und das Papstthum, welches
gegen die italienische Einhcitstendenz sich auswärtige Verbündete suchte. So
war die Situation zur Zeit Pippins. Was dieser gewonnen, wurde von Karl,
seinem Erben gemehrt, befestigt und ausgebildet, bis er endlich inmitten einer
völlig neuen Welt stand, die man aber nicht als willkürlich von ihm geschaffen,
sondern als Resultat der in der Zeit liegenden, den Kaiser seinem Ruhm ent¬
gegenreißenden Strömungen anzusehen hat. Wie die Dünste der Gewässer sich
in die Lüfte heben und zu Wolkengestalten ballen, so giebt es Individuen, in
denen ihr Zeitalter sich gleichsam condensirt, und deren Wesen so aus den


als dieser sich nicht erfüllen wollte, verloren hätte. Das Christenthum als ein
wesentlich Neues begriffen und vom Judenthum losgerissen zu haben, ist die
weltgeschichtliche That des Apostels Paulus.

lSchluß folgt.)




Die Anfänge unsrer Literatur.

lieber den Ursprung der deutschen Literatur, Von Wilhelm Scherer. Berlin, Verlag
von G. Reimer. 1864.

Eine sehr interessante kleine Schrift, welche in schöner klarer Sprache den
Gewinn eines Theils der Forschungen ausdrückt, die in den von Müllenhoff
und Scherer herausgegebenen „Denkmälern deutscher Poesie und Prosa aus dem
achten bis zwölften Jahrhundert" niedergelegt sind. Da sie über die Urzeit
unsrer Literatur in verschiedenen Beziehungen neue Aufschlüsse enthält, wird
ein Blick auf die Grundzüge derselben nützlich und willkommen sein.

Die Poesie eines Volkes ist so alt wie dessen Sprache. Seine Literatur
dagegen tritt unter bestimmten Bedingungen und aus bestimmte Anlässe hin in
einem historisch sixirbaren Moment aus dem Gesammtleben der Nation hervor.
Dieser Moment ist für die Deutschen die Zeit Karls des Großen. Auf ein
bienenstockartiges Wachsen der germanischen Volker war der unwiderstehliche
Drang derselben zum Ausschwärmen in die glanzvolle römische Welt und auf
diese Bewegung wieder eine dritte Periode voll neuer und selbständiger Bildungen
gefolgt, von denen die wichtigste das Frankenreich war, in welchem zuerst ein
germanischer Stamm annectirend unter den übrigen Stämmen der Nation auf¬
trat. Bundesgenossen waren ihm dabei das von angelsächsischen Mönchen in
das Innere Deutschlands getragene Christenthum und das Papstthum, welches
gegen die italienische Einhcitstendenz sich auswärtige Verbündete suchte. So
war die Situation zur Zeit Pippins. Was dieser gewonnen, wurde von Karl,
seinem Erben gemehrt, befestigt und ausgebildet, bis er endlich inmitten einer
völlig neuen Welt stand, die man aber nicht als willkürlich von ihm geschaffen,
sondern als Resultat der in der Zeit liegenden, den Kaiser seinem Ruhm ent¬
gegenreißenden Strömungen anzusehen hat. Wie die Dünste der Gewässer sich
in die Lüfte heben und zu Wolkengestalten ballen, so giebt es Individuen, in
denen ihr Zeitalter sich gleichsam condensirt, und deren Wesen so aus den


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[0518] als dieser sich nicht erfüllen wollte, verloren hätte. Das Christenthum als ein wesentlich Neues begriffen und vom Judenthum losgerissen zu haben, ist die weltgeschichtliche That des Apostels Paulus. lSchluß folgt.) Die Anfänge unsrer Literatur. lieber den Ursprung der deutschen Literatur, Von Wilhelm Scherer. Berlin, Verlag von G. Reimer. 1864. Eine sehr interessante kleine Schrift, welche in schöner klarer Sprache den Gewinn eines Theils der Forschungen ausdrückt, die in den von Müllenhoff und Scherer herausgegebenen „Denkmälern deutscher Poesie und Prosa aus dem achten bis zwölften Jahrhundert" niedergelegt sind. Da sie über die Urzeit unsrer Literatur in verschiedenen Beziehungen neue Aufschlüsse enthält, wird ein Blick auf die Grundzüge derselben nützlich und willkommen sein. Die Poesie eines Volkes ist so alt wie dessen Sprache. Seine Literatur dagegen tritt unter bestimmten Bedingungen und aus bestimmte Anlässe hin in einem historisch sixirbaren Moment aus dem Gesammtleben der Nation hervor. Dieser Moment ist für die Deutschen die Zeit Karls des Großen. Auf ein bienenstockartiges Wachsen der germanischen Volker war der unwiderstehliche Drang derselben zum Ausschwärmen in die glanzvolle römische Welt und auf diese Bewegung wieder eine dritte Periode voll neuer und selbständiger Bildungen gefolgt, von denen die wichtigste das Frankenreich war, in welchem zuerst ein germanischer Stamm annectirend unter den übrigen Stämmen der Nation auf¬ trat. Bundesgenossen waren ihm dabei das von angelsächsischen Mönchen in das Innere Deutschlands getragene Christenthum und das Papstthum, welches gegen die italienische Einhcitstendenz sich auswärtige Verbündete suchte. So war die Situation zur Zeit Pippins. Was dieser gewonnen, wurde von Karl, seinem Erben gemehrt, befestigt und ausgebildet, bis er endlich inmitten einer völlig neuen Welt stand, die man aber nicht als willkürlich von ihm geschaffen, sondern als Resultat der in der Zeit liegenden, den Kaiser seinem Ruhm ent¬ gegenreißenden Strömungen anzusehen hat. Wie die Dünste der Gewässer sich in die Lüfte heben und zu Wolkengestalten ballen, so giebt es Individuen, in denen ihr Zeitalter sich gleichsam condensirt, und deren Wesen so aus den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_189094/518>, abgerufen am 03.05.2024.