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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band.

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Der Wendepunkt in der Geschichte Sachsens.

Angesichts mancher Erscheinungen in der Politik und Geschickte könnte man
die paradox klingende Frage aufwerfen, ob es gut für einen Staatsmann sei,
wenn er zu den geistreichen Leuten gehört. Wir verstehen unter geistreich sein
die Gabe, die verschiedenen Beziehungen der Dinge und der Personen unter
sich rasch zu überblicken, zu gruppiren und in einer gefälligen oder blendenden
Form darzustellen. Es ist dies eine sehr werthvolle, aber auch gefährliche Eigen¬
schaft, weil der Geist leicht durch die Fülle der sich ihm darbietenden Combi¬
nationen sich verirrt und über der Prüfung der vielen Wege, die sich ihm er¬
öffnen, den Entschluß Versäumt, dafern nicht ein gerader Verstand und ein starker
Charakter regulirend zur Seite stehen. Daher kommt es, daß geistreiche Männer
im wirklichen Leben, und das ist doch die Politik im eminentester Sinne, in
der Regel viel geringere Resultate erzielen, als Männer mit beschränkterem, aber
geradem Verstand und festem Willen. Außerdem aber haben geistreiche Leute
nur zu oft zu großes Vertrauen in die Macht ihrer Deductionen und unter¬
schätzen dagegen das Gewicht der realen Verhältnisse. Sie glauben schon im Voraus
des Sieges sicher zu sein, wenn sie die brutale Gewalt der Materie mit den
glänzenden Waffen der Dialektik, in der sie sich Meister fühlen, zu bekämpfen
unternehmen. Berauscht von ihren Combinationen, vergessen sie häusig den
Umfang der ihnen zu Gebote stehenden Mittel und die Größe und Beschaffen¬
heit der ihnen entgegenstehenden Hindernisse richtig in Rechnung zu stellen und
das Facit entspricht daher äußerst selten den gehegten Erwartungen.

Diese Gedanken befielen uns, als wir die vor Kurzem in französischer
Sprache erschienenen "Denkwürdigkeiten des Grafen v. sausst, ehemaligen
sächsischen Ministers" lasen. Herr v. sausst leitete die auswärtige Politik
seines Vaterlandes in den kritischen Jahren 1810--1813, nachdem er vorher
den Gesandtschaftsposten in Paris bekleidet hatte, welchen er 1806, 32 Jahr
alt, angetreten. Daß er bei den damaligen sächsischen Verhältnissen in so jungen
Jahren einen so wichtigen Posten übertragen erhielt, spricht schon für seine
Begabung; mehr noch jede Seite jenes Buches, das uns eine Fülle fein gezeich¬
neter Porträts, interessanter Anekdoten aus den Hof- und Rcgicrungskreisen
dieser Zeit und geistreicher Auseinandersetzungen der politischen Ansichten und


Grenzboten IV. 1864. 31
Der Wendepunkt in der Geschichte Sachsens.

Angesichts mancher Erscheinungen in der Politik und Geschickte könnte man
die paradox klingende Frage aufwerfen, ob es gut für einen Staatsmann sei,
wenn er zu den geistreichen Leuten gehört. Wir verstehen unter geistreich sein
die Gabe, die verschiedenen Beziehungen der Dinge und der Personen unter
sich rasch zu überblicken, zu gruppiren und in einer gefälligen oder blendenden
Form darzustellen. Es ist dies eine sehr werthvolle, aber auch gefährliche Eigen¬
schaft, weil der Geist leicht durch die Fülle der sich ihm darbietenden Combi¬
nationen sich verirrt und über der Prüfung der vielen Wege, die sich ihm er¬
öffnen, den Entschluß Versäumt, dafern nicht ein gerader Verstand und ein starker
Charakter regulirend zur Seite stehen. Daher kommt es, daß geistreiche Männer
im wirklichen Leben, und das ist doch die Politik im eminentester Sinne, in
der Regel viel geringere Resultate erzielen, als Männer mit beschränkterem, aber
geradem Verstand und festem Willen. Außerdem aber haben geistreiche Leute
nur zu oft zu großes Vertrauen in die Macht ihrer Deductionen und unter¬
schätzen dagegen das Gewicht der realen Verhältnisse. Sie glauben schon im Voraus
des Sieges sicher zu sein, wenn sie die brutale Gewalt der Materie mit den
glänzenden Waffen der Dialektik, in der sie sich Meister fühlen, zu bekämpfen
unternehmen. Berauscht von ihren Combinationen, vergessen sie häusig den
Umfang der ihnen zu Gebote stehenden Mittel und die Größe und Beschaffen¬
heit der ihnen entgegenstehenden Hindernisse richtig in Rechnung zu stellen und
das Facit entspricht daher äußerst selten den gehegten Erwartungen.

Diese Gedanken befielen uns, als wir die vor Kurzem in französischer
Sprache erschienenen „Denkwürdigkeiten des Grafen v. sausst, ehemaligen
sächsischen Ministers" lasen. Herr v. sausst leitete die auswärtige Politik
seines Vaterlandes in den kritischen Jahren 1810—1813, nachdem er vorher
den Gesandtschaftsposten in Paris bekleidet hatte, welchen er 1806, 32 Jahr
alt, angetreten. Daß er bei den damaligen sächsischen Verhältnissen in so jungen
Jahren einen so wichtigen Posten übertragen erhielt, spricht schon für seine
Begabung; mehr noch jede Seite jenes Buches, das uns eine Fülle fein gezeich¬
neter Porträts, interessanter Anekdoten aus den Hof- und Rcgicrungskreisen
dieser Zeit und geistreicher Auseinandersetzungen der politischen Ansichten und


Grenzboten IV. 1864. 31
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[0245] Der Wendepunkt in der Geschichte Sachsens. Angesichts mancher Erscheinungen in der Politik und Geschickte könnte man die paradox klingende Frage aufwerfen, ob es gut für einen Staatsmann sei, wenn er zu den geistreichen Leuten gehört. Wir verstehen unter geistreich sein die Gabe, die verschiedenen Beziehungen der Dinge und der Personen unter sich rasch zu überblicken, zu gruppiren und in einer gefälligen oder blendenden Form darzustellen. Es ist dies eine sehr werthvolle, aber auch gefährliche Eigen¬ schaft, weil der Geist leicht durch die Fülle der sich ihm darbietenden Combi¬ nationen sich verirrt und über der Prüfung der vielen Wege, die sich ihm er¬ öffnen, den Entschluß Versäumt, dafern nicht ein gerader Verstand und ein starker Charakter regulirend zur Seite stehen. Daher kommt es, daß geistreiche Männer im wirklichen Leben, und das ist doch die Politik im eminentester Sinne, in der Regel viel geringere Resultate erzielen, als Männer mit beschränkterem, aber geradem Verstand und festem Willen. Außerdem aber haben geistreiche Leute nur zu oft zu großes Vertrauen in die Macht ihrer Deductionen und unter¬ schätzen dagegen das Gewicht der realen Verhältnisse. Sie glauben schon im Voraus des Sieges sicher zu sein, wenn sie die brutale Gewalt der Materie mit den glänzenden Waffen der Dialektik, in der sie sich Meister fühlen, zu bekämpfen unternehmen. Berauscht von ihren Combinationen, vergessen sie häusig den Umfang der ihnen zu Gebote stehenden Mittel und die Größe und Beschaffen¬ heit der ihnen entgegenstehenden Hindernisse richtig in Rechnung zu stellen und das Facit entspricht daher äußerst selten den gehegten Erwartungen. Diese Gedanken befielen uns, als wir die vor Kurzem in französischer Sprache erschienenen „Denkwürdigkeiten des Grafen v. sausst, ehemaligen sächsischen Ministers" lasen. Herr v. sausst leitete die auswärtige Politik seines Vaterlandes in den kritischen Jahren 1810—1813, nachdem er vorher den Gesandtschaftsposten in Paris bekleidet hatte, welchen er 1806, 32 Jahr alt, angetreten. Daß er bei den damaligen sächsischen Verhältnissen in so jungen Jahren einen so wichtigen Posten übertragen erhielt, spricht schon für seine Begabung; mehr noch jede Seite jenes Buches, das uns eine Fülle fein gezeich¬ neter Porträts, interessanter Anekdoten aus den Hof- und Rcgicrungskreisen dieser Zeit und geistreicher Auseinandersetzungen der politischen Ansichten und Grenzboten IV. 1864. 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_360480/245>, abgerufen am 05.05.2024.