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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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Die Bildung des modernen Künstlers.

Ihrer Zerfahrenheit bat es die monumentale Kunst der Gegenwart groszen-
theils zuzuschreiben, daß sie weder zu einer stetigen Entwicklung noch zu
einer eigenthümlichen und stilvollen Anschauungsweise hat gelangen können.
Sie hätte sich vor der charakterlosen Vielseitigkeit, welche über der Mannig¬
faltigkeit und der Bedeutung des Stoffs die Formenvollendung und den schönen
Ausdruck des Lebens aus den Augen verliert, wohl behüten lassen, wenn
sie der Schule großer Vorbilder, in welche sie anfänglich eingetreten, von
Seite der fürstlichen Kunstherren mehr erhalten als entfremdet worden wäre.
Allerdings empfand die ganze moderne deutsche Kunst, von der Zeitbildung
mitgezogen, den Trieb in sich, aus dem neuentdeckten Schacht der Vergangen,
heit alle möglichen, auch die abgelegensten Formen hervorzuholen, um sich in
ihnen mit neuer, doch auch künstlich gesteigerter Lebenslust spielend zu versuchen.
Aber diese Universalität, welche wohl Sache der Bildung ist und deren diese
allmälig für die Zwecke ihres Zeitalters Herr wird, kommt über die Kunst
wie eine fremde Gewalt, der sie unterliegt. Denn die Bildung dringt durch
das Aeußere zum Geist, zum Inhalt der Vergangenheit durch und nimmt ihn
ZU freiem Gebrauch in sich auf; die Kunst aber, wenn ihr nicht eine mäch¬
tige eigene Kraft einwohnt, verwickelt sich in der Fülle des Stoffes und
bleibt, was noch schlimmer ist. an der Form hängen, auch an der ver¬
gänglichen und ausgelebten, die nur als Ausdruck einer bestimmten Zeit be¬
seelte Gestalt war. Die Umkehr aber zu solchen unentwickelten Formen ist
keineswegs im Wesen der Kunst begründet, sondern nur in einer launenhaften
Vorliebe für das Ungewöhnliche und Geheimnisvolle oder in einer Ueberspannt-
heit des Gemüthslebens: in einem Reiz der Empfindung, die durch das
ahnungsvolle Dämmerlicht gefangen wird, mit welchem aus den unreifen Zügen
jener Formen eine in der Wirklichkeit unbefriedigte Seele hervorbricht. Diese


Grenjboten I. 1865.
Die Bildung des modernen Künstlers.

Ihrer Zerfahrenheit bat es die monumentale Kunst der Gegenwart groszen-
theils zuzuschreiben, daß sie weder zu einer stetigen Entwicklung noch zu
einer eigenthümlichen und stilvollen Anschauungsweise hat gelangen können.
Sie hätte sich vor der charakterlosen Vielseitigkeit, welche über der Mannig¬
faltigkeit und der Bedeutung des Stoffs die Formenvollendung und den schönen
Ausdruck des Lebens aus den Augen verliert, wohl behüten lassen, wenn
sie der Schule großer Vorbilder, in welche sie anfänglich eingetreten, von
Seite der fürstlichen Kunstherren mehr erhalten als entfremdet worden wäre.
Allerdings empfand die ganze moderne deutsche Kunst, von der Zeitbildung
mitgezogen, den Trieb in sich, aus dem neuentdeckten Schacht der Vergangen,
heit alle möglichen, auch die abgelegensten Formen hervorzuholen, um sich in
ihnen mit neuer, doch auch künstlich gesteigerter Lebenslust spielend zu versuchen.
Aber diese Universalität, welche wohl Sache der Bildung ist und deren diese
allmälig für die Zwecke ihres Zeitalters Herr wird, kommt über die Kunst
wie eine fremde Gewalt, der sie unterliegt. Denn die Bildung dringt durch
das Aeußere zum Geist, zum Inhalt der Vergangenheit durch und nimmt ihn
ZU freiem Gebrauch in sich auf; die Kunst aber, wenn ihr nicht eine mäch¬
tige eigene Kraft einwohnt, verwickelt sich in der Fülle des Stoffes und
bleibt, was noch schlimmer ist. an der Form hängen, auch an der ver¬
gänglichen und ausgelebten, die nur als Ausdruck einer bestimmten Zeit be¬
seelte Gestalt war. Die Umkehr aber zu solchen unentwickelten Formen ist
keineswegs im Wesen der Kunst begründet, sondern nur in einer launenhaften
Vorliebe für das Ungewöhnliche und Geheimnisvolle oder in einer Ueberspannt-
heit des Gemüthslebens: in einem Reiz der Empfindung, die durch das
ahnungsvolle Dämmerlicht gefangen wird, mit welchem aus den unreifen Zügen
jener Formen eine in der Wirklichkeit unbefriedigte Seele hervorbricht. Diese


Grenjboten I. 1865.
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[0091] Die Bildung des modernen Künstlers. Ihrer Zerfahrenheit bat es die monumentale Kunst der Gegenwart groszen- theils zuzuschreiben, daß sie weder zu einer stetigen Entwicklung noch zu einer eigenthümlichen und stilvollen Anschauungsweise hat gelangen können. Sie hätte sich vor der charakterlosen Vielseitigkeit, welche über der Mannig¬ faltigkeit und der Bedeutung des Stoffs die Formenvollendung und den schönen Ausdruck des Lebens aus den Augen verliert, wohl behüten lassen, wenn sie der Schule großer Vorbilder, in welche sie anfänglich eingetreten, von Seite der fürstlichen Kunstherren mehr erhalten als entfremdet worden wäre. Allerdings empfand die ganze moderne deutsche Kunst, von der Zeitbildung mitgezogen, den Trieb in sich, aus dem neuentdeckten Schacht der Vergangen, heit alle möglichen, auch die abgelegensten Formen hervorzuholen, um sich in ihnen mit neuer, doch auch künstlich gesteigerter Lebenslust spielend zu versuchen. Aber diese Universalität, welche wohl Sache der Bildung ist und deren diese allmälig für die Zwecke ihres Zeitalters Herr wird, kommt über die Kunst wie eine fremde Gewalt, der sie unterliegt. Denn die Bildung dringt durch das Aeußere zum Geist, zum Inhalt der Vergangenheit durch und nimmt ihn ZU freiem Gebrauch in sich auf; die Kunst aber, wenn ihr nicht eine mäch¬ tige eigene Kraft einwohnt, verwickelt sich in der Fülle des Stoffes und bleibt, was noch schlimmer ist. an der Form hängen, auch an der ver¬ gänglichen und ausgelebten, die nur als Ausdruck einer bestimmten Zeit be¬ seelte Gestalt war. Die Umkehr aber zu solchen unentwickelten Formen ist keineswegs im Wesen der Kunst begründet, sondern nur in einer launenhaften Vorliebe für das Ungewöhnliche und Geheimnisvolle oder in einer Ueberspannt- heit des Gemüthslebens: in einem Reiz der Empfindung, die durch das ahnungsvolle Dämmerlicht gefangen wird, mit welchem aus den unreifen Zügen jener Formen eine in der Wirklichkeit unbefriedigte Seele hervorbricht. Diese Grenjboten I. 1865.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/91>, abgerufen am 29.04.2024.