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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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Die hebräische Lyrik.

Die lyrische Poesie geht bis in die älteste Zeit des hebräischen Volkes
hinauf und begleitet dasselbe bis zu seinem Untergänge; ja sie folgt denen,
welche die nationale Vernichtung überleben, in die Zerstreuung. Als der un¬
mittelbare energische Ausdruck der Empfindung, welche der geringsten Objectivität
bedarf, bietet sie sich dem leicht erregbaren, phantaficvollen. subjectiven Wesen
des Hebräers ungesucht dar und wird der Ausdruck aller Gefühle, die ihn be¬
wegen. Ohne den scharfen Formensinn der Griechen, die überall uach Klarheit
und Ebenmaß im Innern und Aeußern streben, begnügt sich der hebräische
Dichter mit den einfachsten Formen, so daß der Unterschied von Prosa und
Poesie weit mehr innerlich als in dein äußern Bau erscheint. Der sogenannte
?g,rg,11ö1isinus nemo'ti'um, eine "Entwickelung des Gedankens und des
Rhythmus in parallelen Reihen", ist eine sehr dehnbare Kunstform, deren
Wesen im Grunde nur darin besteht, daß jeder eigentliche Vers in zwei oder
mehre kurze Glieder zerfällt, die zu einander in einem gewissen, entweder ganz
oder theilweise inhaltlichen oder blos rhythmischen Verhältnisse stehn. Diese
Form ist ein 'passender Ausdruck des lebhaften Gefühls, das sich in kurzen
Sätzen ausspricht, darum aber sich nicht in einem Satze vollständig erschöpft
und nun zur Verdeutlichung einen zweiten hinzusetzt, um ein Bild durch das
andere, oder die Thesis durch die Antithesis zu erklären. Sie ist aber so frei
und läßt so manche Abstufungen zu, daß sie dem ungezwungenen Ausdruck des
Gedankens nie zur Fessel wird, und gewährt in ihrer Abwechselung einen großen
Reiz. Wie hier die einzelnen Versglieder, so können auch mehre Verse zu ein¬
ander in ein künstliches Verhältniß gebracht werden und Strophen bilden.
Diese Form zeigt sich zwar nicht ganz selten, aber doch lange nicht so häufig,
wie sie manche neuere Ausleger finden wollen, welche den in einem Gedicht
nothwendig durch den Inhalt bedingten größeren Zusammenhang einzelner
Versgruppen stets als Zeichen der Strophenbildung ansehn, ohne zu bedenken,
daß bei letzterer ein gewisses gegenseitiges Entsprechen des rhythmischen Verhält-


Grenzboten II. 1866. 16
Die hebräische Lyrik.

Die lyrische Poesie geht bis in die älteste Zeit des hebräischen Volkes
hinauf und begleitet dasselbe bis zu seinem Untergänge; ja sie folgt denen,
welche die nationale Vernichtung überleben, in die Zerstreuung. Als der un¬
mittelbare energische Ausdruck der Empfindung, welche der geringsten Objectivität
bedarf, bietet sie sich dem leicht erregbaren, phantaficvollen. subjectiven Wesen
des Hebräers ungesucht dar und wird der Ausdruck aller Gefühle, die ihn be¬
wegen. Ohne den scharfen Formensinn der Griechen, die überall uach Klarheit
und Ebenmaß im Innern und Aeußern streben, begnügt sich der hebräische
Dichter mit den einfachsten Formen, so daß der Unterschied von Prosa und
Poesie weit mehr innerlich als in dein äußern Bau erscheint. Der sogenannte
?g,rg,11ö1isinus nemo'ti'um, eine „Entwickelung des Gedankens und des
Rhythmus in parallelen Reihen", ist eine sehr dehnbare Kunstform, deren
Wesen im Grunde nur darin besteht, daß jeder eigentliche Vers in zwei oder
mehre kurze Glieder zerfällt, die zu einander in einem gewissen, entweder ganz
oder theilweise inhaltlichen oder blos rhythmischen Verhältnisse stehn. Diese
Form ist ein 'passender Ausdruck des lebhaften Gefühls, das sich in kurzen
Sätzen ausspricht, darum aber sich nicht in einem Satze vollständig erschöpft
und nun zur Verdeutlichung einen zweiten hinzusetzt, um ein Bild durch das
andere, oder die Thesis durch die Antithesis zu erklären. Sie ist aber so frei
und läßt so manche Abstufungen zu, daß sie dem ungezwungenen Ausdruck des
Gedankens nie zur Fessel wird, und gewährt in ihrer Abwechselung einen großen
Reiz. Wie hier die einzelnen Versglieder, so können auch mehre Verse zu ein¬
ander in ein künstliches Verhältniß gebracht werden und Strophen bilden.
Diese Form zeigt sich zwar nicht ganz selten, aber doch lange nicht so häufig,
wie sie manche neuere Ausleger finden wollen, welche den in einem Gedicht
nothwendig durch den Inhalt bedingten größeren Zusammenhang einzelner
Versgruppen stets als Zeichen der Strophenbildung ansehn, ohne zu bedenken,
daß bei letzterer ein gewisses gegenseitiges Entsprechen des rhythmischen Verhält-


Grenzboten II. 1866. 16
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[0137] Die hebräische Lyrik. Die lyrische Poesie geht bis in die älteste Zeit des hebräischen Volkes hinauf und begleitet dasselbe bis zu seinem Untergänge; ja sie folgt denen, welche die nationale Vernichtung überleben, in die Zerstreuung. Als der un¬ mittelbare energische Ausdruck der Empfindung, welche der geringsten Objectivität bedarf, bietet sie sich dem leicht erregbaren, phantaficvollen. subjectiven Wesen des Hebräers ungesucht dar und wird der Ausdruck aller Gefühle, die ihn be¬ wegen. Ohne den scharfen Formensinn der Griechen, die überall uach Klarheit und Ebenmaß im Innern und Aeußern streben, begnügt sich der hebräische Dichter mit den einfachsten Formen, so daß der Unterschied von Prosa und Poesie weit mehr innerlich als in dein äußern Bau erscheint. Der sogenannte ?g,rg,11ö1isinus nemo'ti'um, eine „Entwickelung des Gedankens und des Rhythmus in parallelen Reihen", ist eine sehr dehnbare Kunstform, deren Wesen im Grunde nur darin besteht, daß jeder eigentliche Vers in zwei oder mehre kurze Glieder zerfällt, die zu einander in einem gewissen, entweder ganz oder theilweise inhaltlichen oder blos rhythmischen Verhältnisse stehn. Diese Form ist ein 'passender Ausdruck des lebhaften Gefühls, das sich in kurzen Sätzen ausspricht, darum aber sich nicht in einem Satze vollständig erschöpft und nun zur Verdeutlichung einen zweiten hinzusetzt, um ein Bild durch das andere, oder die Thesis durch die Antithesis zu erklären. Sie ist aber so frei und läßt so manche Abstufungen zu, daß sie dem ungezwungenen Ausdruck des Gedankens nie zur Fessel wird, und gewährt in ihrer Abwechselung einen großen Reiz. Wie hier die einzelnen Versglieder, so können auch mehre Verse zu ein¬ ander in ein künstliches Verhältniß gebracht werden und Strophen bilden. Diese Form zeigt sich zwar nicht ganz selten, aber doch lange nicht so häufig, wie sie manche neuere Ausleger finden wollen, welche den in einem Gedicht nothwendig durch den Inhalt bedingten größeren Zusammenhang einzelner Versgruppen stets als Zeichen der Strophenbildung ansehn, ohne zu bedenken, daß bei letzterer ein gewisses gegenseitiges Entsprechen des rhythmischen Verhält- Grenzboten II. 1866. 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/137>, abgerufen am 29.04.2024.