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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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moiselle Schwester zu finden. In dieser vortrefflichen Gesellschaft habe ich zehn
Tage lang mich so wohl und vergnügt befunden, daß ich zu manchen Zeiten
gar vergaß, daß ich abgebrannt war. Der Amtmann und seine Frau sorgten
sür unsere Bequemlichkeit; beide waren sehr dienstfertig und gastfrei, auch hatte
sie Gott mit zeitlichem Vermögen ziemlich und mit Hunden und Katzen reichlich
gesegnet.

Am 2. August fuhr ich mit der Frau Schwester zurück und bedauerte, daß
mein Exilium nicht länger gewährt hatte. Nun bin ich hier, und wohne bei
der D . . ., welche um ihren Geruch der Heiligkeit ferner, wie bisher, zu er¬
halten, mir das ganze Logis eingeräumet, und sich bis Michaelis nach Borthen
begeben hat; alsdann kömmt sie zurück; und ich beziehe mein neues Quartier.

Da haben Sie, mein liebster Ferber, eine lange Beschreibung meiner Aben-
theuer! Das übrige wünsche ich Ihnen mündlich zu erzählen; und wann?
Bleiben Sie mein Freund. Ich liebe Sie ewig und küsse Sie in Gedanken.
Versichern Sie meine Ergebenheit allen Bekannten, welche sich ihres abgebrannten
Freundes nicht schämen. Leben Sie wohl."




Das Buch der Klagelieder.

Neben den wenigen im Alten Testament zerstreuten Elegien besitzen wir in
demselben noch eine besondere kleine Sammlung von solchen, die aber nicht
etwa das Leid eines Einzelnen, sondern das herbe Geschick des ganzen jüdischen
Volks, den Untergang Jerusalems und des nationalen Daseins beweinen. Eine
alte Ueberlieferung schreibt diese fünf Lieder dem Propheten Jeremia zu. Die
griechische Uebersetzung derselben hat die einleitenden Worte: "Und es begab
sich, nach Israels Gefangennahme und Jerusalems Verwüstung, daß Jeremias
weinend da saß und folgende Klage über Israel anstimmte und sprach", welche
den Eindruck machen, als seien sie aus dem Hebräischen übersetzt und demnach
also wahrscheinlich schon in gewissen Handschriften des Urtextes gestanden haben.
Demgemäß sind die Lieder in der griechischen Bibel auch direct als Anhang an
das Buch Jeremias gefügt und fast in allen christlichen Kirchen gilt ihre Ab-


49"

moiselle Schwester zu finden. In dieser vortrefflichen Gesellschaft habe ich zehn
Tage lang mich so wohl und vergnügt befunden, daß ich zu manchen Zeiten
gar vergaß, daß ich abgebrannt war. Der Amtmann und seine Frau sorgten
sür unsere Bequemlichkeit; beide waren sehr dienstfertig und gastfrei, auch hatte
sie Gott mit zeitlichem Vermögen ziemlich und mit Hunden und Katzen reichlich
gesegnet.

Am 2. August fuhr ich mit der Frau Schwester zurück und bedauerte, daß
mein Exilium nicht länger gewährt hatte. Nun bin ich hier, und wohne bei
der D . . ., welche um ihren Geruch der Heiligkeit ferner, wie bisher, zu er¬
halten, mir das ganze Logis eingeräumet, und sich bis Michaelis nach Borthen
begeben hat; alsdann kömmt sie zurück; und ich beziehe mein neues Quartier.

Da haben Sie, mein liebster Ferber, eine lange Beschreibung meiner Aben-
theuer! Das übrige wünsche ich Ihnen mündlich zu erzählen; und wann?
Bleiben Sie mein Freund. Ich liebe Sie ewig und küsse Sie in Gedanken.
Versichern Sie meine Ergebenheit allen Bekannten, welche sich ihres abgebrannten
Freundes nicht schämen. Leben Sie wohl."




Das Buch der Klagelieder.

Neben den wenigen im Alten Testament zerstreuten Elegien besitzen wir in
demselben noch eine besondere kleine Sammlung von solchen, die aber nicht
etwa das Leid eines Einzelnen, sondern das herbe Geschick des ganzen jüdischen
Volks, den Untergang Jerusalems und des nationalen Daseins beweinen. Eine
alte Ueberlieferung schreibt diese fünf Lieder dem Propheten Jeremia zu. Die
griechische Uebersetzung derselben hat die einleitenden Worte: „Und es begab
sich, nach Israels Gefangennahme und Jerusalems Verwüstung, daß Jeremias
weinend da saß und folgende Klage über Israel anstimmte und sprach", welche
den Eindruck machen, als seien sie aus dem Hebräischen übersetzt und demnach
also wahrscheinlich schon in gewissen Handschriften des Urtextes gestanden haben.
Demgemäß sind die Lieder in der griechischen Bibel auch direct als Anhang an
das Buch Jeremias gefügt und fast in allen christlichen Kirchen gilt ihre Ab-


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[0415] moiselle Schwester zu finden. In dieser vortrefflichen Gesellschaft habe ich zehn Tage lang mich so wohl und vergnügt befunden, daß ich zu manchen Zeiten gar vergaß, daß ich abgebrannt war. Der Amtmann und seine Frau sorgten sür unsere Bequemlichkeit; beide waren sehr dienstfertig und gastfrei, auch hatte sie Gott mit zeitlichem Vermögen ziemlich und mit Hunden und Katzen reichlich gesegnet. Am 2. August fuhr ich mit der Frau Schwester zurück und bedauerte, daß mein Exilium nicht länger gewährt hatte. Nun bin ich hier, und wohne bei der D . . ., welche um ihren Geruch der Heiligkeit ferner, wie bisher, zu er¬ halten, mir das ganze Logis eingeräumet, und sich bis Michaelis nach Borthen begeben hat; alsdann kömmt sie zurück; und ich beziehe mein neues Quartier. Da haben Sie, mein liebster Ferber, eine lange Beschreibung meiner Aben- theuer! Das übrige wünsche ich Ihnen mündlich zu erzählen; und wann? Bleiben Sie mein Freund. Ich liebe Sie ewig und küsse Sie in Gedanken. Versichern Sie meine Ergebenheit allen Bekannten, welche sich ihres abgebrannten Freundes nicht schämen. Leben Sie wohl." Das Buch der Klagelieder. Neben den wenigen im Alten Testament zerstreuten Elegien besitzen wir in demselben noch eine besondere kleine Sammlung von solchen, die aber nicht etwa das Leid eines Einzelnen, sondern das herbe Geschick des ganzen jüdischen Volks, den Untergang Jerusalems und des nationalen Daseins beweinen. Eine alte Ueberlieferung schreibt diese fünf Lieder dem Propheten Jeremia zu. Die griechische Uebersetzung derselben hat die einleitenden Worte: „Und es begab sich, nach Israels Gefangennahme und Jerusalems Verwüstung, daß Jeremias weinend da saß und folgende Klage über Israel anstimmte und sprach", welche den Eindruck machen, als seien sie aus dem Hebräischen übersetzt und demnach also wahrscheinlich schon in gewissen Handschriften des Urtextes gestanden haben. Demgemäß sind die Lieder in der griechischen Bibel auch direct als Anhang an das Buch Jeremias gefügt und fast in allen christlichen Kirchen gilt ihre Ab- 49"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/415>, abgerufen am 29.04.2024.