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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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Piemonts erste Annexionen.

Die Wünsche der Bevölkerungen waren kein Factor, mit welchem die Herren
des wiener Congresses rechneten. Sardinien hätte auf die Lombardei verzichten
müssen, auch wenn diese einmüthig sich sür den Anschluß ausgesprochen hätte.
Genua wurde ihm zugesprochen, obwohl die Bevölkerung sich mit Händen und
Füßen sträubte. Keine der Willkürhandlungen der Verbündeten ist indessen
durch den Erfolg so sehr gerechtfertigt worden, als die Vereinigung der ligu-
rischen Küste mit dem subalpinischen Staat.

Genua wollte in erster Linie Wiederherstellung der Republik, in zweiter
wenigstens Unabhängigkeit eines eigenen, wenn auch monarchischen Staats-
wesens. Die Gründe, mit welchen die genuesische "Nation" ihre Selbständigkeit
vertheidigte, ist ein wahres Arsenal von Waffen des Particularismus, und so
einfach die Geschichte dieser Annexion äußerlich verlief, so ist sie doch nach den
Interessen, die hier im Spiele waren, nach den Motiven, die sich bekämpften,
gradezu classisch zu nennen.

Die provisorische Negierung, welche nach der Befreiung Genuas durch die
britischen Truppen eingesetzt worden war, hatte den Marchese A. Pareto mit
folgenden.Jnstructionen als ihren Bevollmächtigten nach Paris gesandt: In"
mitten der großen Ereignisse, welche in den Völkern die höchsten Hoffnungen
wachgerufen, fühlt sich die gesammte genuesische Nation von dem einzigen Ver-
langen beherrscht, ihre eigenthümliche politische Existenz aufrecht zu halten. Die
Abneigung der Genuesen sich mit Piemont zu vereinigen ist unüberwindlich.
Käme eine solche Vereinigung durch Gewalt zu Stande, so würden unzweifel¬
haft die schwersten Uebelstände daraus hervorgehen, da die Verschiedenheit der
Anschauungen und Interessen beider Völker allzu tief- und altgewurzelt ist.
Genua, des Sitzes der Regierung beraubt, würde sich Turin aufgeopfert, seine
Bewohner in Heloten der Piemontesen umgewandelt sehen. Die Verbündeten
seien im Irrthum, wenn sie meinten, die Militärmacht des Königs von Sar¬
dinien durch den Besitz deS Genuesischen zu kräftigen. Ein Staat sei nur stark,
wenn seine Bewohner durch die Bande der Eintracht und Nationalität eng
mit einander verbunden seien. Genuesen und Piemontesen seien aber im Gegen¬
theil durch verschiedene Gewohnheiten und unbesiegliche Antipathien, die Frucht
zweihundertjähriger politischer Streitigkeiten, getrennt. Darum sei vorauszu¬
sehen, daß der turiner Hof, wenn er einmal Krieg zu führen genöthigt sei,
gleichzeitig im Kampf mit auswärtigen Feinden und mit seinen neuen Unter¬
thanen sich befinden werde. England möge bedenken, welchen Vortheil ihm die


Grenzboten III. 18S6. 2
Piemonts erste Annexionen.

Die Wünsche der Bevölkerungen waren kein Factor, mit welchem die Herren
des wiener Congresses rechneten. Sardinien hätte auf die Lombardei verzichten
müssen, auch wenn diese einmüthig sich sür den Anschluß ausgesprochen hätte.
Genua wurde ihm zugesprochen, obwohl die Bevölkerung sich mit Händen und
Füßen sträubte. Keine der Willkürhandlungen der Verbündeten ist indessen
durch den Erfolg so sehr gerechtfertigt worden, als die Vereinigung der ligu-
rischen Küste mit dem subalpinischen Staat.

Genua wollte in erster Linie Wiederherstellung der Republik, in zweiter
wenigstens Unabhängigkeit eines eigenen, wenn auch monarchischen Staats-
wesens. Die Gründe, mit welchen die genuesische „Nation" ihre Selbständigkeit
vertheidigte, ist ein wahres Arsenal von Waffen des Particularismus, und so
einfach die Geschichte dieser Annexion äußerlich verlief, so ist sie doch nach den
Interessen, die hier im Spiele waren, nach den Motiven, die sich bekämpften,
gradezu classisch zu nennen.

Die provisorische Negierung, welche nach der Befreiung Genuas durch die
britischen Truppen eingesetzt worden war, hatte den Marchese A. Pareto mit
folgenden.Jnstructionen als ihren Bevollmächtigten nach Paris gesandt: In«
mitten der großen Ereignisse, welche in den Völkern die höchsten Hoffnungen
wachgerufen, fühlt sich die gesammte genuesische Nation von dem einzigen Ver-
langen beherrscht, ihre eigenthümliche politische Existenz aufrecht zu halten. Die
Abneigung der Genuesen sich mit Piemont zu vereinigen ist unüberwindlich.
Käme eine solche Vereinigung durch Gewalt zu Stande, so würden unzweifel¬
haft die schwersten Uebelstände daraus hervorgehen, da die Verschiedenheit der
Anschauungen und Interessen beider Völker allzu tief- und altgewurzelt ist.
Genua, des Sitzes der Regierung beraubt, würde sich Turin aufgeopfert, seine
Bewohner in Heloten der Piemontesen umgewandelt sehen. Die Verbündeten
seien im Irrthum, wenn sie meinten, die Militärmacht des Königs von Sar¬
dinien durch den Besitz deS Genuesischen zu kräftigen. Ein Staat sei nur stark,
wenn seine Bewohner durch die Bande der Eintracht und Nationalität eng
mit einander verbunden seien. Genuesen und Piemontesen seien aber im Gegen¬
theil durch verschiedene Gewohnheiten und unbesiegliche Antipathien, die Frucht
zweihundertjähriger politischer Streitigkeiten, getrennt. Darum sei vorauszu¬
sehen, daß der turiner Hof, wenn er einmal Krieg zu führen genöthigt sei,
gleichzeitig im Kampf mit auswärtigen Feinden und mit seinen neuen Unter¬
thanen sich befinden werde. England möge bedenken, welchen Vortheil ihm die


Grenzboten III. 18S6. 2
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[0019] Piemonts erste Annexionen. Die Wünsche der Bevölkerungen waren kein Factor, mit welchem die Herren des wiener Congresses rechneten. Sardinien hätte auf die Lombardei verzichten müssen, auch wenn diese einmüthig sich sür den Anschluß ausgesprochen hätte. Genua wurde ihm zugesprochen, obwohl die Bevölkerung sich mit Händen und Füßen sträubte. Keine der Willkürhandlungen der Verbündeten ist indessen durch den Erfolg so sehr gerechtfertigt worden, als die Vereinigung der ligu- rischen Küste mit dem subalpinischen Staat. Genua wollte in erster Linie Wiederherstellung der Republik, in zweiter wenigstens Unabhängigkeit eines eigenen, wenn auch monarchischen Staats- wesens. Die Gründe, mit welchen die genuesische „Nation" ihre Selbständigkeit vertheidigte, ist ein wahres Arsenal von Waffen des Particularismus, und so einfach die Geschichte dieser Annexion äußerlich verlief, so ist sie doch nach den Interessen, die hier im Spiele waren, nach den Motiven, die sich bekämpften, gradezu classisch zu nennen. Die provisorische Negierung, welche nach der Befreiung Genuas durch die britischen Truppen eingesetzt worden war, hatte den Marchese A. Pareto mit folgenden.Jnstructionen als ihren Bevollmächtigten nach Paris gesandt: In« mitten der großen Ereignisse, welche in den Völkern die höchsten Hoffnungen wachgerufen, fühlt sich die gesammte genuesische Nation von dem einzigen Ver- langen beherrscht, ihre eigenthümliche politische Existenz aufrecht zu halten. Die Abneigung der Genuesen sich mit Piemont zu vereinigen ist unüberwindlich. Käme eine solche Vereinigung durch Gewalt zu Stande, so würden unzweifel¬ haft die schwersten Uebelstände daraus hervorgehen, da die Verschiedenheit der Anschauungen und Interessen beider Völker allzu tief- und altgewurzelt ist. Genua, des Sitzes der Regierung beraubt, würde sich Turin aufgeopfert, seine Bewohner in Heloten der Piemontesen umgewandelt sehen. Die Verbündeten seien im Irrthum, wenn sie meinten, die Militärmacht des Königs von Sar¬ dinien durch den Besitz deS Genuesischen zu kräftigen. Ein Staat sei nur stark, wenn seine Bewohner durch die Bande der Eintracht und Nationalität eng mit einander verbunden seien. Genuesen und Piemontesen seien aber im Gegen¬ theil durch verschiedene Gewohnheiten und unbesiegliche Antipathien, die Frucht zweihundertjähriger politischer Streitigkeiten, getrennt. Darum sei vorauszu¬ sehen, daß der turiner Hof, wenn er einmal Krieg zu führen genöthigt sei, gleichzeitig im Kampf mit auswärtigen Feinden und mit seinen neuen Unter¬ thanen sich befinden werde. England möge bedenken, welchen Vortheil ihm die Grenzboten III. 18S6. 2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/19>, abgerufen am 04.05.2024.