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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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Seiner Dorfgeschichte fehlt freilich bei allem Behagen, womit er die einzel¬
nen Züge der beschränkten Einfachheit des abgeschiedenen Landlebens und der
naiven Unerfahrenheit des Jägers zusammenstellt, der scharfe Blick für das le¬
bensvolle Detail und der poetische Sinn für die organische Komposition eines
wirklichen Genrebildes. Das rhetorische Wesen verräth sich schon in der Breite,
mit welcher die Verhandlungen in der Volksversammlung ausgeführt sind, und
hier fehlt es an einer feineren Charakteristik der einzelnen Personen, welche
auftreten, fast ganz; alle, und schließlich auch der ungebildete Jägersmann, reden
so ziemlich in derselben schulmäßigen Manier. Ebensowenig faßt er die Si¬
tuation mit dem Humor auf, den sie unwillkürlich hervorrufen mußte; er in-
teressirt sich ernstlich für den Biedermann, der wie Seumes Canadier die über¬
tünchte Höflichkeit der Stadt nicht kennt, und ihm wesentlich nur als Folie für
seine moralische Betrachtung dient. Aber sein Mitgefühl für das Glück dieser
bedürfnißlvsen, arbeitsfrohen ehrlichen Landleute ist wahr und warm, und ein
Zug. der fast durch die ganze Literatur der Kaiserzeit geht, spricht sich hier in wohl¬
thuender Einfachheit aus, während er sonst in gespreizter Deklamation oft genug
unangenehm berührt. Der üben'afsinirte Luxus, der auf materiellem wie auf
geistigem Gebiet auch die Bedürfnisse und Begierden ins Ungemessene steigerte, rief
bei Edleren und Gebildeten eine Sehnsucht nach der seligen Einfalt eines mo¬
ralisch und intellectuell ungetrübten Naturlebens hervor, welche philosophische,
naturwissenschaftliche, historische Darstellungen durchzieht, häusig aber in über¬
reizter Sentimentalität oder declamatorischem Pathos, ganz ähnlich wie bei ver¬
wandten Erscheinungen in der französischen Literatur des vorigen Jahrhunderts,
nur als ein neues Symptom derselben Krankheit erscheint, welche alles er¬
griffen hat.


Otto Jahr.


Massimo d'Azeglios politische Anfänge.

I ulei rioorcli. ol Nirssimo Ä'^isegUo. II. Vol. ?irM2ö 1867.

(Vrgl. Ur. 35 der Grenzboten: "Die Denkwürdigkeiten Massimo d'Azeglios".)

Die politischen Ideen der Jugend Italiens zu Anfang des Jahrhunderts
standen durchaus unter dem Einfluß Alfieris. Es bedürfte erst des vollen
Maßes der Leiden, welche die Franzosenherrschaft über Italien brachte, es


Grenzboten III. 1867. 48

Seiner Dorfgeschichte fehlt freilich bei allem Behagen, womit er die einzel¬
nen Züge der beschränkten Einfachheit des abgeschiedenen Landlebens und der
naiven Unerfahrenheit des Jägers zusammenstellt, der scharfe Blick für das le¬
bensvolle Detail und der poetische Sinn für die organische Komposition eines
wirklichen Genrebildes. Das rhetorische Wesen verräth sich schon in der Breite,
mit welcher die Verhandlungen in der Volksversammlung ausgeführt sind, und
hier fehlt es an einer feineren Charakteristik der einzelnen Personen, welche
auftreten, fast ganz; alle, und schließlich auch der ungebildete Jägersmann, reden
so ziemlich in derselben schulmäßigen Manier. Ebensowenig faßt er die Si¬
tuation mit dem Humor auf, den sie unwillkürlich hervorrufen mußte; er in-
teressirt sich ernstlich für den Biedermann, der wie Seumes Canadier die über¬
tünchte Höflichkeit der Stadt nicht kennt, und ihm wesentlich nur als Folie für
seine moralische Betrachtung dient. Aber sein Mitgefühl für das Glück dieser
bedürfnißlvsen, arbeitsfrohen ehrlichen Landleute ist wahr und warm, und ein
Zug. der fast durch die ganze Literatur der Kaiserzeit geht, spricht sich hier in wohl¬
thuender Einfachheit aus, während er sonst in gespreizter Deklamation oft genug
unangenehm berührt. Der üben'afsinirte Luxus, der auf materiellem wie auf
geistigem Gebiet auch die Bedürfnisse und Begierden ins Ungemessene steigerte, rief
bei Edleren und Gebildeten eine Sehnsucht nach der seligen Einfalt eines mo¬
ralisch und intellectuell ungetrübten Naturlebens hervor, welche philosophische,
naturwissenschaftliche, historische Darstellungen durchzieht, häusig aber in über¬
reizter Sentimentalität oder declamatorischem Pathos, ganz ähnlich wie bei ver¬
wandten Erscheinungen in der französischen Literatur des vorigen Jahrhunderts,
nur als ein neues Symptom derselben Krankheit erscheint, welche alles er¬
griffen hat.


Otto Jahr.


Massimo d'Azeglios politische Anfänge.

I ulei rioorcli. ol Nirssimo Ä'^isegUo. II. Vol. ?irM2ö 1867.

(Vrgl. Ur. 35 der Grenzboten: „Die Denkwürdigkeiten Massimo d'Azeglios".)

Die politischen Ideen der Jugend Italiens zu Anfang des Jahrhunderts
standen durchaus unter dem Einfluß Alfieris. Es bedürfte erst des vollen
Maßes der Leiden, welche die Franzosenherrschaft über Italien brachte, es


Grenzboten III. 1867. 48
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[0387] Seiner Dorfgeschichte fehlt freilich bei allem Behagen, womit er die einzel¬ nen Züge der beschränkten Einfachheit des abgeschiedenen Landlebens und der naiven Unerfahrenheit des Jägers zusammenstellt, der scharfe Blick für das le¬ bensvolle Detail und der poetische Sinn für die organische Komposition eines wirklichen Genrebildes. Das rhetorische Wesen verräth sich schon in der Breite, mit welcher die Verhandlungen in der Volksversammlung ausgeführt sind, und hier fehlt es an einer feineren Charakteristik der einzelnen Personen, welche auftreten, fast ganz; alle, und schließlich auch der ungebildete Jägersmann, reden so ziemlich in derselben schulmäßigen Manier. Ebensowenig faßt er die Si¬ tuation mit dem Humor auf, den sie unwillkürlich hervorrufen mußte; er in- teressirt sich ernstlich für den Biedermann, der wie Seumes Canadier die über¬ tünchte Höflichkeit der Stadt nicht kennt, und ihm wesentlich nur als Folie für seine moralische Betrachtung dient. Aber sein Mitgefühl für das Glück dieser bedürfnißlvsen, arbeitsfrohen ehrlichen Landleute ist wahr und warm, und ein Zug. der fast durch die ganze Literatur der Kaiserzeit geht, spricht sich hier in wohl¬ thuender Einfachheit aus, während er sonst in gespreizter Deklamation oft genug unangenehm berührt. Der üben'afsinirte Luxus, der auf materiellem wie auf geistigem Gebiet auch die Bedürfnisse und Begierden ins Ungemessene steigerte, rief bei Edleren und Gebildeten eine Sehnsucht nach der seligen Einfalt eines mo¬ ralisch und intellectuell ungetrübten Naturlebens hervor, welche philosophische, naturwissenschaftliche, historische Darstellungen durchzieht, häusig aber in über¬ reizter Sentimentalität oder declamatorischem Pathos, ganz ähnlich wie bei ver¬ wandten Erscheinungen in der französischen Literatur des vorigen Jahrhunderts, nur als ein neues Symptom derselben Krankheit erscheint, welche alles er¬ griffen hat. Otto Jahr. Massimo d'Azeglios politische Anfänge. I ulei rioorcli. ol Nirssimo Ä'^isegUo. II. Vol. ?irM2ö 1867. (Vrgl. Ur. 35 der Grenzboten: „Die Denkwürdigkeiten Massimo d'Azeglios".) Die politischen Ideen der Jugend Italiens zu Anfang des Jahrhunderts standen durchaus unter dem Einfluß Alfieris. Es bedürfte erst des vollen Maßes der Leiden, welche die Franzosenherrschaft über Italien brachte, es Grenzboten III. 1867. 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/387>, abgerufen am 08.05.2024.