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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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Vermischte Literatur.
Aus dem Nachlaß Varnhagens von Ense. Briefe von Chamisso.
Gneisenau, Haugwih, W. v. Humboldt, Prinz Louis Ferdinand, Rachel, Rückert,
Ludw. Tieck u. A. (2 Bände, bei F. A. Brockhaus.)

"Wenn man nur immer die Geschicklichkeit hätte, wahr sein zu können, so
wäre es nicht möglich, sich je schämen zu dürfen." Diese in Rabath Tagebüchern
gelegentlich aufgestellte Behauptung, die ernsthaften Leuten zu allen Zeiten gleich
unwahr erschienen sein dürfte, sie hat nicht gründlicher widerlegt werden können, als
durch die Veröffentlichungen aus dem Nachlaß des Mannes, der durch ein halbes
Menschenleben der Haushalter über die Geheimnisse des Kreises war, der sich um
Nadel und die übrigen schönen Seelen Berlins gesammelt hatte. Während es bei
der Lecture der vier Bände varnhagcuschcr Tagebücher noch geschehen konnte, daß
das Interesse an den von dem Memoircnschrcibcr behandelten Thatsachen die pein¬
lichen Empfindungen überwog, welche durch die Art und Weise der Behandlung der¬
selben wachgerufen wurden, kommt man bei der Kenntnißnahme des Inhalts der
vorliegenden Briefe über das Gefühl peinlichsten Unbehagens schlechterdings nicht
hinweg: die "Geschicklichkeit", mit welcher Herausgeber und Briefsteller "wahr zu
sein" bemüht gewesen sind, bringt dieselben so häufig in den Fall "sich schämen zu
müssen", daß der Leser immer wieder genöthigt wird, diese verabsäumte Pflicht auf
seinen Theil zu nehmen. Das gilt vor allem bezüglich der Briefe des Prinzen Louis
Ferdinand, seiner Geliebten Pauline Wiesel und der einschläglichen Auszeichnungen, auf
welche die Herausgeberin ein besonderes Gewicht gelegt zu haben scheint, ob dieselben
gleich die xartio Iwuleusö der Sammlung ausmachen. Da ist auch nicht eine Zeile,
die gegründeten Anspruch darauf Hütte, der Nachwelt überliefert zu werden: der geist¬
reiche und großsinnige Fürst, der durch seinen Heldentod bei Saatfelde die Verirrungen
seiner Jugend wett machte, hat es nicht verdient, daß sein Verhältniß zu unwürdigen,
nach Varnhagens eigenem Urtheil moralisch unzurechnungsfähigen Weibern bis ins
Einzelne geschildert und einer Nachwelt überliefert werde, die nicht umhin kann, das
zuchtlose Treiben einer in maßlosem Subjektivismus verkommenen Gesellschaft noch
strenger zu richten, als die Zeitgenossenschaft gethan.

Auch die Aufzeichnungen von und über Wilhelm Humboldt, Chamisso u. f. w.
werden höchstens dem Litcraturklatsch, schwerlich aber der Kulturgeschichte zu Gute
kommen. Jene Versenkung in kleinlich Persönliche Interessen und Beziehungen, die
stete Beschäftigung mit der eigenen Individualität und Begabung, welche die Sig¬
natur des Zeitalters unserer großen Dichter und ihrer Epigonen ausmacht und zu
dem größeren sittlichen Ernst und der Hingabe an objective Menschheitszweckc, welche
unsere Epoche charakterisirten, in schärfsten Contrast steht, sie spricht aus jeder Zeile
der K67 Seiten, welche die vorliegende Sammlung ausmachen. Daß sich manches
aus denselben lernen läßt, daß sich unter der Spreu auch Waizenkörner finden, die
für den Literatur- und Culturhistoriker von Werth sind, kann und soll freilich nicht


Vermischte Literatur.
Aus dem Nachlaß Varnhagens von Ense. Briefe von Chamisso.
Gneisenau, Haugwih, W. v. Humboldt, Prinz Louis Ferdinand, Rachel, Rückert,
Ludw. Tieck u. A. (2 Bände, bei F. A. Brockhaus.)

„Wenn man nur immer die Geschicklichkeit hätte, wahr sein zu können, so
wäre es nicht möglich, sich je schämen zu dürfen." Diese in Rabath Tagebüchern
gelegentlich aufgestellte Behauptung, die ernsthaften Leuten zu allen Zeiten gleich
unwahr erschienen sein dürfte, sie hat nicht gründlicher widerlegt werden können, als
durch die Veröffentlichungen aus dem Nachlaß des Mannes, der durch ein halbes
Menschenleben der Haushalter über die Geheimnisse des Kreises war, der sich um
Nadel und die übrigen schönen Seelen Berlins gesammelt hatte. Während es bei
der Lecture der vier Bände varnhagcuschcr Tagebücher noch geschehen konnte, daß
das Interesse an den von dem Memoircnschrcibcr behandelten Thatsachen die pein¬
lichen Empfindungen überwog, welche durch die Art und Weise der Behandlung der¬
selben wachgerufen wurden, kommt man bei der Kenntnißnahme des Inhalts der
vorliegenden Briefe über das Gefühl peinlichsten Unbehagens schlechterdings nicht
hinweg: die „Geschicklichkeit", mit welcher Herausgeber und Briefsteller „wahr zu
sein" bemüht gewesen sind, bringt dieselben so häufig in den Fall „sich schämen zu
müssen", daß der Leser immer wieder genöthigt wird, diese verabsäumte Pflicht auf
seinen Theil zu nehmen. Das gilt vor allem bezüglich der Briefe des Prinzen Louis
Ferdinand, seiner Geliebten Pauline Wiesel und der einschläglichen Auszeichnungen, auf
welche die Herausgeberin ein besonderes Gewicht gelegt zu haben scheint, ob dieselben
gleich die xartio Iwuleusö der Sammlung ausmachen. Da ist auch nicht eine Zeile,
die gegründeten Anspruch darauf Hütte, der Nachwelt überliefert zu werden: der geist¬
reiche und großsinnige Fürst, der durch seinen Heldentod bei Saatfelde die Verirrungen
seiner Jugend wett machte, hat es nicht verdient, daß sein Verhältniß zu unwürdigen,
nach Varnhagens eigenem Urtheil moralisch unzurechnungsfähigen Weibern bis ins
Einzelne geschildert und einer Nachwelt überliefert werde, die nicht umhin kann, das
zuchtlose Treiben einer in maßlosem Subjektivismus verkommenen Gesellschaft noch
strenger zu richten, als die Zeitgenossenschaft gethan.

Auch die Aufzeichnungen von und über Wilhelm Humboldt, Chamisso u. f. w.
werden höchstens dem Litcraturklatsch, schwerlich aber der Kulturgeschichte zu Gute
kommen. Jene Versenkung in kleinlich Persönliche Interessen und Beziehungen, die
stete Beschäftigung mit der eigenen Individualität und Begabung, welche die Sig¬
natur des Zeitalters unserer großen Dichter und ihrer Epigonen ausmacht und zu
dem größeren sittlichen Ernst und der Hingabe an objective Menschheitszweckc, welche
unsere Epoche charakterisirten, in schärfsten Contrast steht, sie spricht aus jeder Zeile
der K67 Seiten, welche die vorliegende Sammlung ausmachen. Daß sich manches
aus denselben lernen läßt, daß sich unter der Spreu auch Waizenkörner finden, die
für den Literatur- und Culturhistoriker von Werth sind, kann und soll freilich nicht


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[0048] Vermischte Literatur. Aus dem Nachlaß Varnhagens von Ense. Briefe von Chamisso. Gneisenau, Haugwih, W. v. Humboldt, Prinz Louis Ferdinand, Rachel, Rückert, Ludw. Tieck u. A. (2 Bände, bei F. A. Brockhaus.) „Wenn man nur immer die Geschicklichkeit hätte, wahr sein zu können, so wäre es nicht möglich, sich je schämen zu dürfen." Diese in Rabath Tagebüchern gelegentlich aufgestellte Behauptung, die ernsthaften Leuten zu allen Zeiten gleich unwahr erschienen sein dürfte, sie hat nicht gründlicher widerlegt werden können, als durch die Veröffentlichungen aus dem Nachlaß des Mannes, der durch ein halbes Menschenleben der Haushalter über die Geheimnisse des Kreises war, der sich um Nadel und die übrigen schönen Seelen Berlins gesammelt hatte. Während es bei der Lecture der vier Bände varnhagcuschcr Tagebücher noch geschehen konnte, daß das Interesse an den von dem Memoircnschrcibcr behandelten Thatsachen die pein¬ lichen Empfindungen überwog, welche durch die Art und Weise der Behandlung der¬ selben wachgerufen wurden, kommt man bei der Kenntnißnahme des Inhalts der vorliegenden Briefe über das Gefühl peinlichsten Unbehagens schlechterdings nicht hinweg: die „Geschicklichkeit", mit welcher Herausgeber und Briefsteller „wahr zu sein" bemüht gewesen sind, bringt dieselben so häufig in den Fall „sich schämen zu müssen", daß der Leser immer wieder genöthigt wird, diese verabsäumte Pflicht auf seinen Theil zu nehmen. Das gilt vor allem bezüglich der Briefe des Prinzen Louis Ferdinand, seiner Geliebten Pauline Wiesel und der einschläglichen Auszeichnungen, auf welche die Herausgeberin ein besonderes Gewicht gelegt zu haben scheint, ob dieselben gleich die xartio Iwuleusö der Sammlung ausmachen. Da ist auch nicht eine Zeile, die gegründeten Anspruch darauf Hütte, der Nachwelt überliefert zu werden: der geist¬ reiche und großsinnige Fürst, der durch seinen Heldentod bei Saatfelde die Verirrungen seiner Jugend wett machte, hat es nicht verdient, daß sein Verhältniß zu unwürdigen, nach Varnhagens eigenem Urtheil moralisch unzurechnungsfähigen Weibern bis ins Einzelne geschildert und einer Nachwelt überliefert werde, die nicht umhin kann, das zuchtlose Treiben einer in maßlosem Subjektivismus verkommenen Gesellschaft noch strenger zu richten, als die Zeitgenossenschaft gethan. Auch die Aufzeichnungen von und über Wilhelm Humboldt, Chamisso u. f. w. werden höchstens dem Litcraturklatsch, schwerlich aber der Kulturgeschichte zu Gute kommen. Jene Versenkung in kleinlich Persönliche Interessen und Beziehungen, die stete Beschäftigung mit der eigenen Individualität und Begabung, welche die Sig¬ natur des Zeitalters unserer großen Dichter und ihrer Epigonen ausmacht und zu dem größeren sittlichen Ernst und der Hingabe an objective Menschheitszweckc, welche unsere Epoche charakterisirten, in schärfsten Contrast steht, sie spricht aus jeder Zeile der K67 Seiten, welche die vorliegende Sammlung ausmachen. Daß sich manches aus denselben lernen läßt, daß sich unter der Spreu auch Waizenkörner finden, die für den Literatur- und Culturhistoriker von Werth sind, kann und soll freilich nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/48>, abgerufen am 09.05.2024.