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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band.

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Neue theologische Literatur.

Unter den gewaltigen Erregungen, mit denen die politischen Geburtswehen
der jüngsten Zeit den Gesammtorganismus der civilisirten Staaten erfaßt haben,
will es Vielen scheinen, als oh die religiösen und kirchlichen Fragen an Gewicht
und Interesse für unser Culturleben bedeutend verloren hätten. Literatur aber
und Jnteressenverkehr der Gebildeten belehrt uns eines Anderen. Die Parteien
stehen sich auf dem theologischen Gebiet mit ungebrochener Rührigkeit gegenüber,
und im Stillen wuchert eine Saat, die, wenn nur ihre bereits sichtbaren Keime
erst emporgewachsen sind, auch hier die größten Umwälzungen verheißt. Wir
meinen die Einwirkungen der Evangelienkritik, seitdem sie in den Schriften der
Renan, Strauß und Schenkel populär geworden, nicht mehr allein in der theo¬
logischen Welt, sondern zugleich in zahlreichen Laien mit der Erschütterung des
alten Dogmengebäudes die Tendenz nach Zerstörung oder Neuorganisirung der
bisherigen kirchlichen Formen angeregt hat. Der Kampf, der sich hier ent¬
sponnen, wird immer heißer und ausgedehnter. Die moderne Kritik, so be¬
deutender Verbreitung sie sich neuerdings nihmt, hat dennoch einen harten
Stand, indem sie nicht nur im Lager der starren Orthodoxie, sondern auch in
den ihr zugänglichen Gebieten auf Abneigung und Widerstreben stößt; ein
Widerstreben, das in dem mächtigen Drange nach kirchlicher Einheit und Zu¬
sammenballung, wie er die große Mehrheit der Geister beseelt, seinen Grund
hat und so lange berechtigt und unbesiegbar sein wird, bis es gelingt, die
Formel zu finden, in welcher das neugewonnene Cbristusbild der ganzen Ge¬
meinde anschaulich und unentbehrlich gemacht werden kann, indem der Einzelne
wie die Gesammtheit für jedes Stück Altväterhausrath, das man ihnen nimmt,
mit Bewußtsein Aechteres und Fruchtbareres empfangen.

Halten wir Revue über die hierher gehörige theologische Literatur der
letzten Monate, so begegnet uns zunächst der neueste Versuch negativer Evan¬
gelienkritik in

H. G. Jbbeken. das Leben Jesu nach der Darstellung des
Matthäus. Oldenburg. Schulze,

der das erste Evangelium als eine Tendenzarbeit darstellt, welche Jesus als den
im Alten Testament verheißenen Messias aus einer durchgehenden Parallele
seines Lebens und der Entwicklungsgeschichte des jüdischen Volkes nachweisen
wolle. Doch vermag uns'nur der polemische Theil, in welchem des neuerdings
der leipziger Universität "gewonnenen" Delitzsch Ansicht "jenes Evangelium


Neue theologische Literatur.

Unter den gewaltigen Erregungen, mit denen die politischen Geburtswehen
der jüngsten Zeit den Gesammtorganismus der civilisirten Staaten erfaßt haben,
will es Vielen scheinen, als oh die religiösen und kirchlichen Fragen an Gewicht
und Interesse für unser Culturleben bedeutend verloren hätten. Literatur aber
und Jnteressenverkehr der Gebildeten belehrt uns eines Anderen. Die Parteien
stehen sich auf dem theologischen Gebiet mit ungebrochener Rührigkeit gegenüber,
und im Stillen wuchert eine Saat, die, wenn nur ihre bereits sichtbaren Keime
erst emporgewachsen sind, auch hier die größten Umwälzungen verheißt. Wir
meinen die Einwirkungen der Evangelienkritik, seitdem sie in den Schriften der
Renan, Strauß und Schenkel populär geworden, nicht mehr allein in der theo¬
logischen Welt, sondern zugleich in zahlreichen Laien mit der Erschütterung des
alten Dogmengebäudes die Tendenz nach Zerstörung oder Neuorganisirung der
bisherigen kirchlichen Formen angeregt hat. Der Kampf, der sich hier ent¬
sponnen, wird immer heißer und ausgedehnter. Die moderne Kritik, so be¬
deutender Verbreitung sie sich neuerdings nihmt, hat dennoch einen harten
Stand, indem sie nicht nur im Lager der starren Orthodoxie, sondern auch in
den ihr zugänglichen Gebieten auf Abneigung und Widerstreben stößt; ein
Widerstreben, das in dem mächtigen Drange nach kirchlicher Einheit und Zu¬
sammenballung, wie er die große Mehrheit der Geister beseelt, seinen Grund
hat und so lange berechtigt und unbesiegbar sein wird, bis es gelingt, die
Formel zu finden, in welcher das neugewonnene Cbristusbild der ganzen Ge¬
meinde anschaulich und unentbehrlich gemacht werden kann, indem der Einzelne
wie die Gesammtheit für jedes Stück Altväterhausrath, das man ihnen nimmt,
mit Bewußtsein Aechteres und Fruchtbareres empfangen.

Halten wir Revue über die hierher gehörige theologische Literatur der
letzten Monate, so begegnet uns zunächst der neueste Versuch negativer Evan¬
gelienkritik in

H. G. Jbbeken. das Leben Jesu nach der Darstellung des
Matthäus. Oldenburg. Schulze,

der das erste Evangelium als eine Tendenzarbeit darstellt, welche Jesus als den
im Alten Testament verheißenen Messias aus einer durchgehenden Parallele
seines Lebens und der Entwicklungsgeschichte des jüdischen Volkes nachweisen
wolle. Doch vermag uns'nur der polemische Theil, in welchem des neuerdings
der leipziger Universität „gewonnenen" Delitzsch Ansicht „jenes Evangelium


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[0352] Neue theologische Literatur. Unter den gewaltigen Erregungen, mit denen die politischen Geburtswehen der jüngsten Zeit den Gesammtorganismus der civilisirten Staaten erfaßt haben, will es Vielen scheinen, als oh die religiösen und kirchlichen Fragen an Gewicht und Interesse für unser Culturleben bedeutend verloren hätten. Literatur aber und Jnteressenverkehr der Gebildeten belehrt uns eines Anderen. Die Parteien stehen sich auf dem theologischen Gebiet mit ungebrochener Rührigkeit gegenüber, und im Stillen wuchert eine Saat, die, wenn nur ihre bereits sichtbaren Keime erst emporgewachsen sind, auch hier die größten Umwälzungen verheißt. Wir meinen die Einwirkungen der Evangelienkritik, seitdem sie in den Schriften der Renan, Strauß und Schenkel populär geworden, nicht mehr allein in der theo¬ logischen Welt, sondern zugleich in zahlreichen Laien mit der Erschütterung des alten Dogmengebäudes die Tendenz nach Zerstörung oder Neuorganisirung der bisherigen kirchlichen Formen angeregt hat. Der Kampf, der sich hier ent¬ sponnen, wird immer heißer und ausgedehnter. Die moderne Kritik, so be¬ deutender Verbreitung sie sich neuerdings nihmt, hat dennoch einen harten Stand, indem sie nicht nur im Lager der starren Orthodoxie, sondern auch in den ihr zugänglichen Gebieten auf Abneigung und Widerstreben stößt; ein Widerstreben, das in dem mächtigen Drange nach kirchlicher Einheit und Zu¬ sammenballung, wie er die große Mehrheit der Geister beseelt, seinen Grund hat und so lange berechtigt und unbesiegbar sein wird, bis es gelingt, die Formel zu finden, in welcher das neugewonnene Cbristusbild der ganzen Ge¬ meinde anschaulich und unentbehrlich gemacht werden kann, indem der Einzelne wie die Gesammtheit für jedes Stück Altväterhausrath, das man ihnen nimmt, mit Bewußtsein Aechteres und Fruchtbareres empfangen. Halten wir Revue über die hierher gehörige theologische Literatur der letzten Monate, so begegnet uns zunächst der neueste Versuch negativer Evan¬ gelienkritik in H. G. Jbbeken. das Leben Jesu nach der Darstellung des Matthäus. Oldenburg. Schulze, der das erste Evangelium als eine Tendenzarbeit darstellt, welche Jesus als den im Alten Testament verheißenen Messias aus einer durchgehenden Parallele seines Lebens und der Entwicklungsgeschichte des jüdischen Volkes nachweisen wolle. Doch vermag uns'nur der polemische Theil, in welchem des neuerdings der leipziger Universität „gewonnenen" Delitzsch Ansicht „jenes Evangelium

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349917/352>, abgerufen am 05.05.2024.