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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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Der Nationalverein.

Der Nationalverein steht im Begriff, seine Laufbahn zu beschließen. Zwar
ist das Ziel, welches er sich bei seiner Entstehung vor nunmehr acht Jahren
steckte, nicht völlig erreicht; indessen er muß und kann es anderen Organen des
Nationalwillens überlassen, den Rest des Weges zurückzulegen. Seine eigene
Lebenskraft ist erschöpft. Es ist heilsam und lehrreich, in kurzen Zügen seine
Geschichte zu betrachten.

Die geistige-Erschütterung, welche der lombardische Krieg von 1869 nach
Deutschland herüber erstreckte, weckte hier in zahlreichen Gemüthern aufs neue
die Einheits- und Freiheits-Jdeen, welche 1848 und 49 eine ephemere Gewalt
ausgeübt hatten. Da jedoch zu einer zweiten allgemeinen Revolution im Volke
nicht Kraft und Zorn genug, zur Berufung eines zweiten nationalen Parla¬
ments bei den nur leicht bedrohten Regierungen keine Willigkeit vorhanden
war, so mühten jene Ideen sich einstweilen mit dem Gefäß eines bloßen Ver¬
eins begnügen. Auch dieses schien eine Zeitlang durch den herrschenden Poli¬
zeigeist gefährdet. Der Nationalverein, am Sitze des Bundestags ins Leben
gerufen, konnte doch nicht daran denken, dort fortzubestehen, sondern hatte sich
noch glücklich zu preisen, daß der einzige seinen Bestrebungen sofort geneigte
deutsche Souverain ihm in dem abgelegenen Koburg eine Freistatt eröffnete.
Von dieser Ebernburg aus rief der neue collective Sickingen oder Hütten die
Nation zur Wiederaufnahme des Kampfes für ihre politische Verjüngung auf,
den sie neun Jahre früher nothgedrungen, besiegt von Particularismus und
Reaction, hatte fallen lassen.

Die Fehler des ersten vergeblichen Feldzuges schienen diesmal glücklich ver¬
mieden werden zu sollen. Die Differenz zwischen Konstitutionellen und Demo¬
kraten wurde nicht anerkannt als eine, welche auf das Verhältniß zur deutschen
Verfassungsfrage entscheidenden Einfluß hätte, und welche folglich verhindern
müßte, daß alle liberalen Kräfte sich zur Erzwingung einer radicalen Vunbes-
reform zusammenschaarten. Ohne eine gewisse Gleichgiltigkeit gegen den höheren
oder niedrigeren Grad von Liberalismus, zu welchem die einzelnen Bestand¬
theile des Vereins sich bekennen mochten, wäre eine allgemein deutsche Partei¬
bildung damals auch kaum möglich gewesen. In der einen Gegend walteten
die Demokraten vor und trugen die nationale Fahne, in der andern die Kon¬
stitutionellen. In einigen Ländern, Hannover z. B.. war der alte Unterschied
zwischen gemäßigten und entschiednen Liberalen sogar schon völlig begraben.
Entsprechend dieser Mischung, ohne welche ein die Mehrheit der Nation umsah-


Der Nationalverein.

Der Nationalverein steht im Begriff, seine Laufbahn zu beschließen. Zwar
ist das Ziel, welches er sich bei seiner Entstehung vor nunmehr acht Jahren
steckte, nicht völlig erreicht; indessen er muß und kann es anderen Organen des
Nationalwillens überlassen, den Rest des Weges zurückzulegen. Seine eigene
Lebenskraft ist erschöpft. Es ist heilsam und lehrreich, in kurzen Zügen seine
Geschichte zu betrachten.

Die geistige-Erschütterung, welche der lombardische Krieg von 1869 nach
Deutschland herüber erstreckte, weckte hier in zahlreichen Gemüthern aufs neue
die Einheits- und Freiheits-Jdeen, welche 1848 und 49 eine ephemere Gewalt
ausgeübt hatten. Da jedoch zu einer zweiten allgemeinen Revolution im Volke
nicht Kraft und Zorn genug, zur Berufung eines zweiten nationalen Parla¬
ments bei den nur leicht bedrohten Regierungen keine Willigkeit vorhanden
war, so mühten jene Ideen sich einstweilen mit dem Gefäß eines bloßen Ver¬
eins begnügen. Auch dieses schien eine Zeitlang durch den herrschenden Poli¬
zeigeist gefährdet. Der Nationalverein, am Sitze des Bundestags ins Leben
gerufen, konnte doch nicht daran denken, dort fortzubestehen, sondern hatte sich
noch glücklich zu preisen, daß der einzige seinen Bestrebungen sofort geneigte
deutsche Souverain ihm in dem abgelegenen Koburg eine Freistatt eröffnete.
Von dieser Ebernburg aus rief der neue collective Sickingen oder Hütten die
Nation zur Wiederaufnahme des Kampfes für ihre politische Verjüngung auf,
den sie neun Jahre früher nothgedrungen, besiegt von Particularismus und
Reaction, hatte fallen lassen.

Die Fehler des ersten vergeblichen Feldzuges schienen diesmal glücklich ver¬
mieden werden zu sollen. Die Differenz zwischen Konstitutionellen und Demo¬
kraten wurde nicht anerkannt als eine, welche auf das Verhältniß zur deutschen
Verfassungsfrage entscheidenden Einfluß hätte, und welche folglich verhindern
müßte, daß alle liberalen Kräfte sich zur Erzwingung einer radicalen Vunbes-
reform zusammenschaarten. Ohne eine gewisse Gleichgiltigkeit gegen den höheren
oder niedrigeren Grad von Liberalismus, zu welchem die einzelnen Bestand¬
theile des Vereins sich bekennen mochten, wäre eine allgemein deutsche Partei¬
bildung damals auch kaum möglich gewesen. In der einen Gegend walteten
die Demokraten vor und trugen die nationale Fahne, in der andern die Kon¬
stitutionellen. In einigen Ländern, Hannover z. B.. war der alte Unterschied
zwischen gemäßigten und entschiednen Liberalen sogar schon völlig begraben.
Entsprechend dieser Mischung, ohne welche ein die Mehrheit der Nation umsah-


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[0107] Der Nationalverein. Der Nationalverein steht im Begriff, seine Laufbahn zu beschließen. Zwar ist das Ziel, welches er sich bei seiner Entstehung vor nunmehr acht Jahren steckte, nicht völlig erreicht; indessen er muß und kann es anderen Organen des Nationalwillens überlassen, den Rest des Weges zurückzulegen. Seine eigene Lebenskraft ist erschöpft. Es ist heilsam und lehrreich, in kurzen Zügen seine Geschichte zu betrachten. Die geistige-Erschütterung, welche der lombardische Krieg von 1869 nach Deutschland herüber erstreckte, weckte hier in zahlreichen Gemüthern aufs neue die Einheits- und Freiheits-Jdeen, welche 1848 und 49 eine ephemere Gewalt ausgeübt hatten. Da jedoch zu einer zweiten allgemeinen Revolution im Volke nicht Kraft und Zorn genug, zur Berufung eines zweiten nationalen Parla¬ ments bei den nur leicht bedrohten Regierungen keine Willigkeit vorhanden war, so mühten jene Ideen sich einstweilen mit dem Gefäß eines bloßen Ver¬ eins begnügen. Auch dieses schien eine Zeitlang durch den herrschenden Poli¬ zeigeist gefährdet. Der Nationalverein, am Sitze des Bundestags ins Leben gerufen, konnte doch nicht daran denken, dort fortzubestehen, sondern hatte sich noch glücklich zu preisen, daß der einzige seinen Bestrebungen sofort geneigte deutsche Souverain ihm in dem abgelegenen Koburg eine Freistatt eröffnete. Von dieser Ebernburg aus rief der neue collective Sickingen oder Hütten die Nation zur Wiederaufnahme des Kampfes für ihre politische Verjüngung auf, den sie neun Jahre früher nothgedrungen, besiegt von Particularismus und Reaction, hatte fallen lassen. Die Fehler des ersten vergeblichen Feldzuges schienen diesmal glücklich ver¬ mieden werden zu sollen. Die Differenz zwischen Konstitutionellen und Demo¬ kraten wurde nicht anerkannt als eine, welche auf das Verhältniß zur deutschen Verfassungsfrage entscheidenden Einfluß hätte, und welche folglich verhindern müßte, daß alle liberalen Kräfte sich zur Erzwingung einer radicalen Vunbes- reform zusammenschaarten. Ohne eine gewisse Gleichgiltigkeit gegen den höheren oder niedrigeren Grad von Liberalismus, zu welchem die einzelnen Bestand¬ theile des Vereins sich bekennen mochten, wäre eine allgemein deutsche Partei¬ bildung damals auch kaum möglich gewesen. In der einen Gegend walteten die Demokraten vor und trugen die nationale Fahne, in der andern die Kon¬ stitutionellen. In einigen Ländern, Hannover z. B.. war der alte Unterschied zwischen gemäßigten und entschiednen Liberalen sogar schon völlig begraben. Entsprechend dieser Mischung, ohne welche ein die Mehrheit der Nation umsah-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/107>, abgerufen am 25.04.2024.