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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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war und dessen Bürger noch heute nicht vergessen haben, daß die Herrschaft
des Adels an ihren Mauern stets eine unverrückbare Schranke gefunden hatte.

Nur zwölf Meilen östlich von Reval liegt Narwa, der äußerste Vorposten
deutschen Bürgerthums in dem unwirthbaren Eise des Nordens, nur zur Hälfte
noch dem baltisch-deutschen Culturgebict zugehörig. Im Jahre 1223 vom Kö¬
nig Waldemar von Dänemark begründet und sechs Jahre früher als Liv- und
Estland, im Jahre 1704 von Peter dem Großen erobert, gehört Narwa in
administrativer Beziehung zum Gouvernement Se. Petersburg, während seine
Gerichte dem revaler Oberlandgericht untergeordnet sind. Zwei Meilen vom See¬
strande entfernt ist die Stadt durch die Narowa mit ihrem Hafen Hungerburg
verbunden, aber Handel und Wohlstand sind hier in noch viel rascherem Rück¬
gange begriffen, als in Neval; die zwanzig Meilen weiter nach Osten liegende
Newaresidenz duldet die Concurrenz einer nur noch zur Hälfte deutschen Klein¬
stadt nicht länger. Während der westliche Theil Narwas noch das Bild einer
deutschen mittelalterlichen Stadt bildet, ragen im Osten derselben die Thürme
der alten russischen Burgveste Jwangorod drohend empor; Jwaugorod ist die
russische Vorstadt Narwas, und nur mühsam wehrt das deutsche Patricierge-
schlecht, das übrig geblieben ist, die alte Tradition seiner Vorfahren gegen den
mächtigen Andrang von Osten. Ihre aristokratische Verfassung mit dem sich selbst er¬
gänzenden Rath und den Gilden ist den russischen Einwanderern ein Gräuel und
eine Thorheit und findet in der Petersburger Gouvernementsregierung, der
Narwa untergeordnet ist, kaum einen Halt. Sechs Jahre hat es gedauert, bis der
Rath sein ihm neuerdings von der Demokratie der Vorstädte bestrittenes Recht zur
Wahl des Bürgermeisters geltend machen konnte, obgleich ihm der unzweideutige
Wortlaut des Gesetzes zur Seite stand, -- nur mit äußerster Anstrengung aller
Kräfte vermag er sein Aussichtsrecht über die Schulen und den officiellen Ge¬
brauch der deutschen Sprache aufrecht zu erhalten; die zweimal wöchentlich
erscheinenden "Narwaschen Stadtblätter" sind die einzige Errungenschaft, deren
das deutsche Element sich seit Jahren zu rühmen hat. Es wird vielleicht nur
noch weniger Jahrzehnte bedürfen, und dieses selbst ist zur Sage geworden und
von der deutschen Stadt Narwa blos noch die russische Beste Jwangorod
übrig geblieben! --




Der deutsche Buchhandel der letzten Monate.

Unser heutiger Bericht leidet gleichmäßig unter dem Einflüsse der verflosse¬
nen Wochen wie des herannahenden Winters. Während auch diesesmal die
Zeni'rochüre wesentlich in den Hintergrund tritt, steigt die Belletristik in so breiter


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war und dessen Bürger noch heute nicht vergessen haben, daß die Herrschaft
des Adels an ihren Mauern stets eine unverrückbare Schranke gefunden hatte.

Nur zwölf Meilen östlich von Reval liegt Narwa, der äußerste Vorposten
deutschen Bürgerthums in dem unwirthbaren Eise des Nordens, nur zur Hälfte
noch dem baltisch-deutschen Culturgebict zugehörig. Im Jahre 1223 vom Kö¬
nig Waldemar von Dänemark begründet und sechs Jahre früher als Liv- und
Estland, im Jahre 1704 von Peter dem Großen erobert, gehört Narwa in
administrativer Beziehung zum Gouvernement Se. Petersburg, während seine
Gerichte dem revaler Oberlandgericht untergeordnet sind. Zwei Meilen vom See¬
strande entfernt ist die Stadt durch die Narowa mit ihrem Hafen Hungerburg
verbunden, aber Handel und Wohlstand sind hier in noch viel rascherem Rück¬
gange begriffen, als in Neval; die zwanzig Meilen weiter nach Osten liegende
Newaresidenz duldet die Concurrenz einer nur noch zur Hälfte deutschen Klein¬
stadt nicht länger. Während der westliche Theil Narwas noch das Bild einer
deutschen mittelalterlichen Stadt bildet, ragen im Osten derselben die Thürme
der alten russischen Burgveste Jwangorod drohend empor; Jwaugorod ist die
russische Vorstadt Narwas, und nur mühsam wehrt das deutsche Patricierge-
schlecht, das übrig geblieben ist, die alte Tradition seiner Vorfahren gegen den
mächtigen Andrang von Osten. Ihre aristokratische Verfassung mit dem sich selbst er¬
gänzenden Rath und den Gilden ist den russischen Einwanderern ein Gräuel und
eine Thorheit und findet in der Petersburger Gouvernementsregierung, der
Narwa untergeordnet ist, kaum einen Halt. Sechs Jahre hat es gedauert, bis der
Rath sein ihm neuerdings von der Demokratie der Vorstädte bestrittenes Recht zur
Wahl des Bürgermeisters geltend machen konnte, obgleich ihm der unzweideutige
Wortlaut des Gesetzes zur Seite stand, — nur mit äußerster Anstrengung aller
Kräfte vermag er sein Aussichtsrecht über die Schulen und den officiellen Ge¬
brauch der deutschen Sprache aufrecht zu erhalten; die zweimal wöchentlich
erscheinenden „Narwaschen Stadtblätter" sind die einzige Errungenschaft, deren
das deutsche Element sich seit Jahren zu rühmen hat. Es wird vielleicht nur
noch weniger Jahrzehnte bedürfen, und dieses selbst ist zur Sage geworden und
von der deutschen Stadt Narwa blos noch die russische Beste Jwangorod
übrig geblieben! —




Der deutsche Buchhandel der letzten Monate.

Unser heutiger Bericht leidet gleichmäßig unter dem Einflüsse der verflosse¬
nen Wochen wie des herannahenden Winters. Während auch diesesmal die
Zeni'rochüre wesentlich in den Hintergrund tritt, steigt die Belletristik in so breiter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/347>, abgerufen am 19.04.2024.