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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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Die baltischen Provinzen Rußlands.
IV.
Die brennenden Fragen der Gegenwart.

Der Ausgangspunkt der freisinnigen Reformen Alexanders II. war be¬
kanntlich die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland. Für die baltischen
Provinzen hatte diese wichtige Mahregel zunächst keine directen Folgen, denn
in diesen Ländern war die persönliche Freiheit der Bauern bereits ein Men¬
schenalter früher proclamirt worden. Soviel die bäuerlichen Zustände am Aus¬
gang des letzten Jahrzehnts in Liv". Est- und Kurland auch noch zu wünschen
übrig ließen, sie hatten sich auf zu eigenthümlicher Grundlage entwickelt, um
durch den Emancipationsukas v. 19. Februar 1861 irgend berührt werden zu
können. Was in den folgenden Jahren zu Gunsten des Bauernstandes durch
die baltischen Landtage geschah, war im Princip schon früher angebahnt wor¬
den: die Aushebung der Arbcitspacht (Frohne), der Schutz des Pachters gegen
willkürliche Steigerungen und Kündigungen des PachtgeverS, die Abgrenzung
des zur Benutzung des Bauernstandes bestimmten Grund und Bovens, die
möglichste Förderung des bäuerlichen Grundbesitzes durch Etablirung von Credit¬
banken u. s. w. -- das waren Ziele, auf welche man seit lange losgesteuert
hatte und die von dem berühmten kaiserl. Emancipationsukas schon darum völlig
unabhängig waren, weil dieser die eigenthümlich russischen Institute des Ge-
meindecigenthums. des gleichen Anspruchs aller Gemeindeglieder an den Grund
und Boden und der periodisch neu vertheilten Parcelle zur Voraussetzung ge¬
habt hatte, Dinge, die in Finnland, Polen und den Ostseeprovinzen ebenso un¬
bekannt sind, wie im gesammten westlichen Europa. Die Aushebung der Un¬
freiheit, welcher die russischen Bauern unterworfen gewesen waren, gewann
aber dadurch große und weittragende Bedeutung, daß sie mit einer mächtigen
Reformbewegung, einem leidenschaftlichen Freiheitsdrang der seit Jahrzehnten
jeder Theilnahme am Staatsleben entfremdeten russischen Gesellschaft zusammen-


Grenzbotin IV. 18K7. 47
Die baltischen Provinzen Rußlands.
IV.
Die brennenden Fragen der Gegenwart.

Der Ausgangspunkt der freisinnigen Reformen Alexanders II. war be¬
kanntlich die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland. Für die baltischen
Provinzen hatte diese wichtige Mahregel zunächst keine directen Folgen, denn
in diesen Ländern war die persönliche Freiheit der Bauern bereits ein Men¬
schenalter früher proclamirt worden. Soviel die bäuerlichen Zustände am Aus¬
gang des letzten Jahrzehnts in Liv«. Est- und Kurland auch noch zu wünschen
übrig ließen, sie hatten sich auf zu eigenthümlicher Grundlage entwickelt, um
durch den Emancipationsukas v. 19. Februar 1861 irgend berührt werden zu
können. Was in den folgenden Jahren zu Gunsten des Bauernstandes durch
die baltischen Landtage geschah, war im Princip schon früher angebahnt wor¬
den: die Aushebung der Arbcitspacht (Frohne), der Schutz des Pachters gegen
willkürliche Steigerungen und Kündigungen des PachtgeverS, die Abgrenzung
des zur Benutzung des Bauernstandes bestimmten Grund und Bovens, die
möglichste Förderung des bäuerlichen Grundbesitzes durch Etablirung von Credit¬
banken u. s. w. — das waren Ziele, auf welche man seit lange losgesteuert
hatte und die von dem berühmten kaiserl. Emancipationsukas schon darum völlig
unabhängig waren, weil dieser die eigenthümlich russischen Institute des Ge-
meindecigenthums. des gleichen Anspruchs aller Gemeindeglieder an den Grund
und Boden und der periodisch neu vertheilten Parcelle zur Voraussetzung ge¬
habt hatte, Dinge, die in Finnland, Polen und den Ostseeprovinzen ebenso un¬
bekannt sind, wie im gesammten westlichen Europa. Die Aushebung der Un¬
freiheit, welcher die russischen Bauern unterworfen gewesen waren, gewann
aber dadurch große und weittragende Bedeutung, daß sie mit einer mächtigen
Reformbewegung, einem leidenschaftlichen Freiheitsdrang der seit Jahrzehnten
jeder Theilnahme am Staatsleben entfremdeten russischen Gesellschaft zusammen-


Grenzbotin IV. 18K7. 47
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[0369] Die baltischen Provinzen Rußlands. IV. Die brennenden Fragen der Gegenwart. Der Ausgangspunkt der freisinnigen Reformen Alexanders II. war be¬ kanntlich die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland. Für die baltischen Provinzen hatte diese wichtige Mahregel zunächst keine directen Folgen, denn in diesen Ländern war die persönliche Freiheit der Bauern bereits ein Men¬ schenalter früher proclamirt worden. Soviel die bäuerlichen Zustände am Aus¬ gang des letzten Jahrzehnts in Liv«. Est- und Kurland auch noch zu wünschen übrig ließen, sie hatten sich auf zu eigenthümlicher Grundlage entwickelt, um durch den Emancipationsukas v. 19. Februar 1861 irgend berührt werden zu können. Was in den folgenden Jahren zu Gunsten des Bauernstandes durch die baltischen Landtage geschah, war im Princip schon früher angebahnt wor¬ den: die Aushebung der Arbcitspacht (Frohne), der Schutz des Pachters gegen willkürliche Steigerungen und Kündigungen des PachtgeverS, die Abgrenzung des zur Benutzung des Bauernstandes bestimmten Grund und Bovens, die möglichste Förderung des bäuerlichen Grundbesitzes durch Etablirung von Credit¬ banken u. s. w. — das waren Ziele, auf welche man seit lange losgesteuert hatte und die von dem berühmten kaiserl. Emancipationsukas schon darum völlig unabhängig waren, weil dieser die eigenthümlich russischen Institute des Ge- meindecigenthums. des gleichen Anspruchs aller Gemeindeglieder an den Grund und Boden und der periodisch neu vertheilten Parcelle zur Voraussetzung ge¬ habt hatte, Dinge, die in Finnland, Polen und den Ostseeprovinzen ebenso un¬ bekannt sind, wie im gesammten westlichen Europa. Die Aushebung der Un¬ freiheit, welcher die russischen Bauern unterworfen gewesen waren, gewann aber dadurch große und weittragende Bedeutung, daß sie mit einer mächtigen Reformbewegung, einem leidenschaftlichen Freiheitsdrang der seit Jahrzehnten jeder Theilnahme am Staatsleben entfremdeten russischen Gesellschaft zusammen- Grenzbotin IV. 18K7. 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/369>, abgerufen am 25.04.2024.