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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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gethane uno reich gesegnete politische und wissenschaftliche Arbeit wurde dieses
Fest gefeiert; es galt einer wirklichen That nicht patriotischen Vorsätzen, die
in der nächsten Viertelstunde vergessen werden, es stand auf festem, sieg¬
reich mit den Waffen des Geistes wiedererobertem Boden, nicht in
der blauen Luft kindischer Phantasien, seine Redner fragten nicht, was sie
zu thun hätten, um in das politische Himmelreich zu kommen, sie gelobten
sich, das errungene Besitzthum zu wahren und weiter wuchern zu lassen, zu
des Staats und der Nation Ehre und Bereicherung! Zu ihrer wahren na¬
tionalen Bedeutung werden Jubeltage dieser Art erst gelangen, wenn unser
Volk sich daran gewöhnt hat, seine realen Errungenschaften, nicht Ausge¬
burten überreizter Phantasie und gegenstandlos gewordene sentimentale Wün¬
sche zu feiern.




Der Troveor*) Nutebeuf.

Wenn wir die provenzalische Dichtung einem Garten des Südens ver¬
gleichen , in welchem nur hie und da ein kräftiger Stamm in die Lüfte ragt,
während der Boden überall von zierlichen, farbenprächtigen Blumen bedeckt
ist, so gleicht die nordfranzösche Dichtung einem Hochwalde, in welchem ge¬
waltige epische Dichtungen wie kräftige Eichen emporragen , während nur
hie und da, dem schüchternen Epheu gleich, ein zartes Lied der Liebe hervor¬
keimt. Und diesem Walde fehlt es nicht an Unterholz. Neben den riesigen
Gewächsen der Epen gedeihen kleinere, die jedoch nichts mit der zarten Blü¬
thenpracht lyrischer Gedichte gemein haben, die vielmehr der zähen Hasel oder
der harten Birke gleichen, von denen man Stöcke und Ruthen zur Erziehung
der Menschheit schneidet, oder dem Jlex, der Brombeere und anderm stach-
lichen Gestrüpp, das bei näherer Berührung recht empfindliche Schrammen
verursacht. Mit diesem Unterholze meinen wir die kleineren Gedichte erzäh¬
lenden, didactischen und satirischen Inhalts, welche man mit den Namen der
Dies, Cortes und Fabliaux bezeichnet. Dieselben erfreuten sich schon
während des 12. Jahrhunderts und gleichzeitig mit den Volksepen und



') Sonderbarer Weise hat sich in der romantischen Sprachwissenschaft der Brauch ein¬
gebürgert, die nordfranzösischen Dichter im' Gegensatz zu den trovaäors der Provenzalen
"trouvöres" zu nennen. Beide Namen haben dieselbe Bedeutung, indem sie von einer latei¬
nischen Form t.rovü,lor, der Erfinder, d. h. Dichter, herstammen. Es entspricht aber "trou-
vsrs" dem lat. nonr, trovätor, (provcnz, trobaire) während "trodaäor" sich auf den lat.
s>co. trovstörsm stützt, Da nun kein vernünftiger Grund vorliegt, weshalb man bei zwei
Ausdrücken, die ganz denselben Begriff darstellen, einen solchen Casusuntcrschicd machen müßte,
und da im Nordfmnzösischen die Form trovoür ganz genau dem jedermann geläufigen pro¬
vcnz. trobagür entspricht, so haben wir, einem durch Alterund Gewohnheit geheiligten Brauch,
oder vielmehr Mißbrauch, entgegen, stets trovsür geschrieben.

gethane uno reich gesegnete politische und wissenschaftliche Arbeit wurde dieses
Fest gefeiert; es galt einer wirklichen That nicht patriotischen Vorsätzen, die
in der nächsten Viertelstunde vergessen werden, es stand auf festem, sieg¬
reich mit den Waffen des Geistes wiedererobertem Boden, nicht in
der blauen Luft kindischer Phantasien, seine Redner fragten nicht, was sie
zu thun hätten, um in das politische Himmelreich zu kommen, sie gelobten
sich, das errungene Besitzthum zu wahren und weiter wuchern zu lassen, zu
des Staats und der Nation Ehre und Bereicherung! Zu ihrer wahren na¬
tionalen Bedeutung werden Jubeltage dieser Art erst gelangen, wenn unser
Volk sich daran gewöhnt hat, seine realen Errungenschaften, nicht Ausge¬
burten überreizter Phantasie und gegenstandlos gewordene sentimentale Wün¬
sche zu feiern.




Der Troveor*) Nutebeuf.

Wenn wir die provenzalische Dichtung einem Garten des Südens ver¬
gleichen , in welchem nur hie und da ein kräftiger Stamm in die Lüfte ragt,
während der Boden überall von zierlichen, farbenprächtigen Blumen bedeckt
ist, so gleicht die nordfranzösche Dichtung einem Hochwalde, in welchem ge¬
waltige epische Dichtungen wie kräftige Eichen emporragen , während nur
hie und da, dem schüchternen Epheu gleich, ein zartes Lied der Liebe hervor¬
keimt. Und diesem Walde fehlt es nicht an Unterholz. Neben den riesigen
Gewächsen der Epen gedeihen kleinere, die jedoch nichts mit der zarten Blü¬
thenpracht lyrischer Gedichte gemein haben, die vielmehr der zähen Hasel oder
der harten Birke gleichen, von denen man Stöcke und Ruthen zur Erziehung
der Menschheit schneidet, oder dem Jlex, der Brombeere und anderm stach-
lichen Gestrüpp, das bei näherer Berührung recht empfindliche Schrammen
verursacht. Mit diesem Unterholze meinen wir die kleineren Gedichte erzäh¬
lenden, didactischen und satirischen Inhalts, welche man mit den Namen der
Dies, Cortes und Fabliaux bezeichnet. Dieselben erfreuten sich schon
während des 12. Jahrhunderts und gleichzeitig mit den Volksepen und



') Sonderbarer Weise hat sich in der romantischen Sprachwissenschaft der Brauch ein¬
gebürgert, die nordfranzösischen Dichter im' Gegensatz zu den trovaäors der Provenzalen
„trouvöres" zu nennen. Beide Namen haben dieselbe Bedeutung, indem sie von einer latei¬
nischen Form t.rovü,lor, der Erfinder, d. h. Dichter, herstammen. Es entspricht aber „trou-
vsrs" dem lat. nonr, trovätor, (provcnz, trobaire) während „trodaäor" sich auf den lat.
s>co. trovstörsm stützt, Da nun kein vernünftiger Grund vorliegt, weshalb man bei zwei
Ausdrücken, die ganz denselben Begriff darstellen, einen solchen Casusuntcrschicd machen müßte,
und da im Nordfmnzösischen die Form trovoür ganz genau dem jedermann geläufigen pro¬
vcnz. trobagür entspricht, so haben wir, einem durch Alterund Gewohnheit geheiligten Brauch,
oder vielmehr Mißbrauch, entgegen, stets trovsür geschrieben.
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[0268] gethane uno reich gesegnete politische und wissenschaftliche Arbeit wurde dieses Fest gefeiert; es galt einer wirklichen That nicht patriotischen Vorsätzen, die in der nächsten Viertelstunde vergessen werden, es stand auf festem, sieg¬ reich mit den Waffen des Geistes wiedererobertem Boden, nicht in der blauen Luft kindischer Phantasien, seine Redner fragten nicht, was sie zu thun hätten, um in das politische Himmelreich zu kommen, sie gelobten sich, das errungene Besitzthum zu wahren und weiter wuchern zu lassen, zu des Staats und der Nation Ehre und Bereicherung! Zu ihrer wahren na¬ tionalen Bedeutung werden Jubeltage dieser Art erst gelangen, wenn unser Volk sich daran gewöhnt hat, seine realen Errungenschaften, nicht Ausge¬ burten überreizter Phantasie und gegenstandlos gewordene sentimentale Wün¬ sche zu feiern. Der Troveor*) Nutebeuf. Wenn wir die provenzalische Dichtung einem Garten des Südens ver¬ gleichen , in welchem nur hie und da ein kräftiger Stamm in die Lüfte ragt, während der Boden überall von zierlichen, farbenprächtigen Blumen bedeckt ist, so gleicht die nordfranzösche Dichtung einem Hochwalde, in welchem ge¬ waltige epische Dichtungen wie kräftige Eichen emporragen , während nur hie und da, dem schüchternen Epheu gleich, ein zartes Lied der Liebe hervor¬ keimt. Und diesem Walde fehlt es nicht an Unterholz. Neben den riesigen Gewächsen der Epen gedeihen kleinere, die jedoch nichts mit der zarten Blü¬ thenpracht lyrischer Gedichte gemein haben, die vielmehr der zähen Hasel oder der harten Birke gleichen, von denen man Stöcke und Ruthen zur Erziehung der Menschheit schneidet, oder dem Jlex, der Brombeere und anderm stach- lichen Gestrüpp, das bei näherer Berührung recht empfindliche Schrammen verursacht. Mit diesem Unterholze meinen wir die kleineren Gedichte erzäh¬ lenden, didactischen und satirischen Inhalts, welche man mit den Namen der Dies, Cortes und Fabliaux bezeichnet. Dieselben erfreuten sich schon während des 12. Jahrhunderts und gleichzeitig mit den Volksepen und ') Sonderbarer Weise hat sich in der romantischen Sprachwissenschaft der Brauch ein¬ gebürgert, die nordfranzösischen Dichter im' Gegensatz zu den trovaäors der Provenzalen „trouvöres" zu nennen. Beide Namen haben dieselbe Bedeutung, indem sie von einer latei¬ nischen Form t.rovü,lor, der Erfinder, d. h. Dichter, herstammen. Es entspricht aber „trou- vsrs" dem lat. nonr, trovätor, (provcnz, trobaire) während „trodaäor" sich auf den lat. s>co. trovstörsm stützt, Da nun kein vernünftiger Grund vorliegt, weshalb man bei zwei Ausdrücken, die ganz denselben Begriff darstellen, einen solchen Casusuntcrschicd machen müßte, und da im Nordfmnzösischen die Form trovoür ganz genau dem jedermann geläufigen pro¬ vcnz. trobagür entspricht, so haben wir, einem durch Alterund Gewohnheit geheiligten Brauch, oder vielmehr Mißbrauch, entgegen, stets trovsür geschrieben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/268>, abgerufen am 05.05.2024.