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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band.

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Der gegenwärtige Stand der NunenKunde.

Sobald man das Wort "Runen" ausspricht, weiß Jedermann, was damit
gemeint ist, ja man kann sagen, Jedermann weiß mehr davon als die wem-'
gen, die sich einen guten Theil ihres Lebens mit der Erschließung des
Zaubers gequält haben, der wie der Name schon besagt, auf ihnen ruht. Den
anderen genügt es, das Geheimniß als solches bestehen zu lassen. Die Phan¬
tasie mag sich in seine Tiefen versenken, wenn sie gerade Muße dazu hat;
der Verstand wird dabei nicht weiter in Anspruch genommen. Was die Ge¬
lehrten aus den Runen herauslesen, mögen sie selbst vertreten, und so viel
dringt jetzt auch aus dem abgelegensten Arbeitsstübchen in die Oeffentlichkeit,
daß das Gewirre der Hypothesen und Controversen sobald ein neues Runen¬
denkmal entdeckt und erklärt wird, bis hinein in unsere kleinen Localblätter
Stoff zu zeitgemäßen Ergüssen über unzeitgemäße, unfruchtbare, nichtige
Schulzänkereien hergeben muß. Seltsam bleibt immerhin, daß wir heut
zu Tage die verschiedenen Gattungen ägyptischer Schrift, theilweise mit ziem¬
licher, theilweise mit wirklicher Sicherheit zu lesen im Stande sind, daß aus
den Inschriften von Persepolis und Bissitun die Thaten und Besitzthümer des
Darius eine urkundliche Grundlage erhalten haben, an der Niemand zu
rütteln in den Sinn kommt, obgleich uns von den ersteren vier Jahrtausende
oder auch noch etwas mehr, von den letzteren doch noch die stattliche Zahl
von zwei und einem halben Jahrtausend trennt, wogegen die keckste
Phantasie der Runenfreunde kein einziges Denkmal weiter hinauf als etwa
bis zu dem Anfang unserer christlichen Zeitrechnung zu rücken wagt.

Ferner: jene ägyptischen und altpersischen Steinbilderund Inschriften ge¬
hören einer Sprache an, die wie die Schrift selbst ganz verschollen war. Die
eine wie die andere mußten durch kühne und glückliche Conjeeturen erst wieder
mühsam entdeckt werden, denn es ist begreiflich, auch für den, der sonst
von dem Sachverhalt nichts weiß., daß man ihrer linguistischen Geltung nach-
unbekannte Schriftzeichen wohl auf der Basis einer bekannten Sprache ent¬
ziffern kann, aber daß sie bloße zufällige Schnörkel und Striche bleiben, so
lange man keine Ahnung von ihrem möglichen Lautwerthe hat.


Grenzboten III. 1868. 11
Der gegenwärtige Stand der NunenKunde.

Sobald man das Wort „Runen" ausspricht, weiß Jedermann, was damit
gemeint ist, ja man kann sagen, Jedermann weiß mehr davon als die wem-'
gen, die sich einen guten Theil ihres Lebens mit der Erschließung des
Zaubers gequält haben, der wie der Name schon besagt, auf ihnen ruht. Den
anderen genügt es, das Geheimniß als solches bestehen zu lassen. Die Phan¬
tasie mag sich in seine Tiefen versenken, wenn sie gerade Muße dazu hat;
der Verstand wird dabei nicht weiter in Anspruch genommen. Was die Ge¬
lehrten aus den Runen herauslesen, mögen sie selbst vertreten, und so viel
dringt jetzt auch aus dem abgelegensten Arbeitsstübchen in die Oeffentlichkeit,
daß das Gewirre der Hypothesen und Controversen sobald ein neues Runen¬
denkmal entdeckt und erklärt wird, bis hinein in unsere kleinen Localblätter
Stoff zu zeitgemäßen Ergüssen über unzeitgemäße, unfruchtbare, nichtige
Schulzänkereien hergeben muß. Seltsam bleibt immerhin, daß wir heut
zu Tage die verschiedenen Gattungen ägyptischer Schrift, theilweise mit ziem¬
licher, theilweise mit wirklicher Sicherheit zu lesen im Stande sind, daß aus
den Inschriften von Persepolis und Bissitun die Thaten und Besitzthümer des
Darius eine urkundliche Grundlage erhalten haben, an der Niemand zu
rütteln in den Sinn kommt, obgleich uns von den ersteren vier Jahrtausende
oder auch noch etwas mehr, von den letzteren doch noch die stattliche Zahl
von zwei und einem halben Jahrtausend trennt, wogegen die keckste
Phantasie der Runenfreunde kein einziges Denkmal weiter hinauf als etwa
bis zu dem Anfang unserer christlichen Zeitrechnung zu rücken wagt.

Ferner: jene ägyptischen und altpersischen Steinbilderund Inschriften ge¬
hören einer Sprache an, die wie die Schrift selbst ganz verschollen war. Die
eine wie die andere mußten durch kühne und glückliche Conjeeturen erst wieder
mühsam entdeckt werden, denn es ist begreiflich, auch für den, der sonst
von dem Sachverhalt nichts weiß., daß man ihrer linguistischen Geltung nach-
unbekannte Schriftzeichen wohl auf der Basis einer bekannten Sprache ent¬
ziffern kann, aber daß sie bloße zufällige Schnörkel und Striche bleiben, so
lange man keine Ahnung von ihrem möglichen Lautwerthe hat.


Grenzboten III. 1868. 11
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[0095] Der gegenwärtige Stand der NunenKunde. Sobald man das Wort „Runen" ausspricht, weiß Jedermann, was damit gemeint ist, ja man kann sagen, Jedermann weiß mehr davon als die wem-' gen, die sich einen guten Theil ihres Lebens mit der Erschließung des Zaubers gequält haben, der wie der Name schon besagt, auf ihnen ruht. Den anderen genügt es, das Geheimniß als solches bestehen zu lassen. Die Phan¬ tasie mag sich in seine Tiefen versenken, wenn sie gerade Muße dazu hat; der Verstand wird dabei nicht weiter in Anspruch genommen. Was die Ge¬ lehrten aus den Runen herauslesen, mögen sie selbst vertreten, und so viel dringt jetzt auch aus dem abgelegensten Arbeitsstübchen in die Oeffentlichkeit, daß das Gewirre der Hypothesen und Controversen sobald ein neues Runen¬ denkmal entdeckt und erklärt wird, bis hinein in unsere kleinen Localblätter Stoff zu zeitgemäßen Ergüssen über unzeitgemäße, unfruchtbare, nichtige Schulzänkereien hergeben muß. Seltsam bleibt immerhin, daß wir heut zu Tage die verschiedenen Gattungen ägyptischer Schrift, theilweise mit ziem¬ licher, theilweise mit wirklicher Sicherheit zu lesen im Stande sind, daß aus den Inschriften von Persepolis und Bissitun die Thaten und Besitzthümer des Darius eine urkundliche Grundlage erhalten haben, an der Niemand zu rütteln in den Sinn kommt, obgleich uns von den ersteren vier Jahrtausende oder auch noch etwas mehr, von den letzteren doch noch die stattliche Zahl von zwei und einem halben Jahrtausend trennt, wogegen die keckste Phantasie der Runenfreunde kein einziges Denkmal weiter hinauf als etwa bis zu dem Anfang unserer christlichen Zeitrechnung zu rücken wagt. Ferner: jene ägyptischen und altpersischen Steinbilderund Inschriften ge¬ hören einer Sprache an, die wie die Schrift selbst ganz verschollen war. Die eine wie die andere mußten durch kühne und glückliche Conjeeturen erst wieder mühsam entdeckt werden, denn es ist begreiflich, auch für den, der sonst von dem Sachverhalt nichts weiß., daß man ihrer linguistischen Geltung nach- unbekannte Schriftzeichen wohl auf der Basis einer bekannten Sprache ent¬ ziffern kann, aber daß sie bloße zufällige Schnörkel und Striche bleiben, so lange man keine Ahnung von ihrem möglichen Lautwerthe hat. Grenzboten III. 1868. 11

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. I Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_286711/95>, abgerufen am 05.05.2024.