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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band.

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Zur Geschichte des baltischen Protestantismus.

Geschichtsbilder aus der lutherischen Kirche Livlands vom I. 1845
an. Von Dr. Adolf v. Harleß (Leipzig bei Dunker und Humblot 1869.) 221 S.

In unserer von Parteigegensätzen zerrissenen Zeit geschieht es nur sehr
selten, daß die europäische Culturwelt sich auf die Gemeinsamkeit der letzten
Grundlagen ihrer Lebensgestaltung besinnt, und daß demgemäß alle sittlich
denkenden Menschen in einem gegebenen Falle dasselbe denken und wollen.
Die Regel ist, daß der eine Schatten sieht, wo der andere goldnes Licht zu
erblicken glaubt,'und daß geschärftes politisches oder religiöses Sonderbewußt¬
sein mit Vorliebe die Allgemeingiltigkeit der Sätze in Frage stellt, welche,
genau genommen, doch längst allgemeines Eigenthum geworden sind.

Zu den Postulaten der Vernunft und Sittlichkeit, die allen Zurechnungs-
sähigen unwandelbar feststehen, gehört die Freiheit des religiösen Bekennt¬
nisses. Grundsätzlich wird dieselbe -- wenn wir von gewissen Fanatiker¬
kreisen Spaniens und Tirols absehen -- nirgend mehr verneint. Keine Ver¬
letzung dieser geheiligten Errungenschaft des 18. Jahrhunderts wird begangen,
die nicht dem Verdammungsurtheil aller Gebildeten verfällt und die Wider¬
strebenden müssen zu Ausflüchten und Sophistereien ihre Zuflucht nehmen,
wenn sie vor der öffentlichen Meinung Europas möglich bleiben wollen.

In diesem Sinne läßt sich behaupten, daß das vorliegende Buch, obgleich
von einem protestantischen Geistlichen geschrieben, der mit seiner Partei-
farbe nicht zurückhält, überall das gleiche Interesse, die gleiche Beurtheilung
finden, werde, mag es von Katholiken oder Protestanten, Liberalen oder Con-
servativen, Strengkirchlichen oder Freidenkern zur Hand genommen werden.
Harleß' "Geschichtsbilder aus der lutherischen Kirche Livlands" bilden einen
Appell an das sittliche Bewußtsein Deutschlands und fordern die öffentliche
Meinung zu einem Bekenntniß dafür auf. daß Zustände, welche die Freiheit
des religiösen Bekenntnisses in Frage stellen, mit ihr unverträglich, von ihr
gerichtet sind.

Die politischen Zustände der deutschen Ostseeprovinzen Rußlands und
die Kämpfe, welche dieselben mit der nationalen russischen Demokratie zu be¬
stehen haben, sind wie in der gesammten deutschen Presse, so in diesen Blättern
wiederholt zur Sprache gebracht und erörtert worden. Obgleich das Harleß'sche
Buch auch aus sie eingeht und die nationale und politische Bedeutung des
baltischen Protestantismus ausführlich behandelt, sehen wir in unserem Be¬
richt von dieser Seite der Sache ab. Uns ist in erster Linie darum zu thun,


Zur Geschichte des baltischen Protestantismus.

Geschichtsbilder aus der lutherischen Kirche Livlands vom I. 1845
an. Von Dr. Adolf v. Harleß (Leipzig bei Dunker und Humblot 1869.) 221 S.

In unserer von Parteigegensätzen zerrissenen Zeit geschieht es nur sehr
selten, daß die europäische Culturwelt sich auf die Gemeinsamkeit der letzten
Grundlagen ihrer Lebensgestaltung besinnt, und daß demgemäß alle sittlich
denkenden Menschen in einem gegebenen Falle dasselbe denken und wollen.
Die Regel ist, daß der eine Schatten sieht, wo der andere goldnes Licht zu
erblicken glaubt,'und daß geschärftes politisches oder religiöses Sonderbewußt¬
sein mit Vorliebe die Allgemeingiltigkeit der Sätze in Frage stellt, welche,
genau genommen, doch längst allgemeines Eigenthum geworden sind.

Zu den Postulaten der Vernunft und Sittlichkeit, die allen Zurechnungs-
sähigen unwandelbar feststehen, gehört die Freiheit des religiösen Bekennt¬
nisses. Grundsätzlich wird dieselbe — wenn wir von gewissen Fanatiker¬
kreisen Spaniens und Tirols absehen — nirgend mehr verneint. Keine Ver¬
letzung dieser geheiligten Errungenschaft des 18. Jahrhunderts wird begangen,
die nicht dem Verdammungsurtheil aller Gebildeten verfällt und die Wider¬
strebenden müssen zu Ausflüchten und Sophistereien ihre Zuflucht nehmen,
wenn sie vor der öffentlichen Meinung Europas möglich bleiben wollen.

In diesem Sinne läßt sich behaupten, daß das vorliegende Buch, obgleich
von einem protestantischen Geistlichen geschrieben, der mit seiner Partei-
farbe nicht zurückhält, überall das gleiche Interesse, die gleiche Beurtheilung
finden, werde, mag es von Katholiken oder Protestanten, Liberalen oder Con-
servativen, Strengkirchlichen oder Freidenkern zur Hand genommen werden.
Harleß' „Geschichtsbilder aus der lutherischen Kirche Livlands" bilden einen
Appell an das sittliche Bewußtsein Deutschlands und fordern die öffentliche
Meinung zu einem Bekenntniß dafür auf. daß Zustände, welche die Freiheit
des religiösen Bekenntnisses in Frage stellen, mit ihr unverträglich, von ihr
gerichtet sind.

Die politischen Zustände der deutschen Ostseeprovinzen Rußlands und
die Kämpfe, welche dieselben mit der nationalen russischen Demokratie zu be¬
stehen haben, sind wie in der gesammten deutschen Presse, so in diesen Blättern
wiederholt zur Sprache gebracht und erörtert worden. Obgleich das Harleß'sche
Buch auch aus sie eingeht und die nationale und politische Bedeutung des
baltischen Protestantismus ausführlich behandelt, sehen wir in unserem Be¬
richt von dieser Seite der Sache ab. Uns ist in erster Linie darum zu thun,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120686/13>, abgerufen am 04.05.2024.