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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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werden, die Polemik, welche hier der "Lien", dort die "Esperance" unter¬
hält, vergleicht man die hervorragenden Leistungen der Kanzelberedtsamkeit in
beiden Lagern, und hält man vollends die wissenschaftlichen Leistungen, dort
eines Guizot, eines Pressense', hier eines Re^ille, Colani, Coquerel gegen ein¬
ander, so wird dran keinen Augenblick im Zweifel sein können, wem schließ,
lich der Sieg gehören wird. Die Orthodoxen scheinen nicht zu ahnen, welche
Consequenzen es für sie selber haben muß, daß sie die Dinge auf diese Spitze
stellten. Die Legitimation zu ihrem intoleranten Vorgehen schöpfen sie einzig
daraus, daß sie bisher die Majorität in Händen haben. Diese Majorität
aber kann sich bei jeder Wahl ändern, und sobald dieser Fall eintritt, sehen
sich die Orthodoxen dem fatalen Dilemma gegenüber, entweder auf ihr Ver¬
langen der Alleinherrschaft zu verzichten, oder aber mit dem Satze, daß sie
mit den Liberalen nichts Gemeinschaftliches mehr haben, Ernst zu machen
und als Seete, als Häresie aus der Kirche zu scheiden. Die Waffe, ,die sie
jetzt gegen die Liberalen brauchen, würde sich gegen sie wenden, gerade wie
einst am Ende der nachapostolischen Zeit die judenchristliche Partei theils der
katholischen Partei sich anschloß und damit auf die Exclusivität ihrer Ortho¬
doxie verzichtete, oder aber, sofern sie auf diesem Standpuncte verharrte,
als Häresie aus der Kirche geschieden wurde oder vielmehr selbst sich von
ihr schied. Die ernsteren Fragen würden sich freilich erst dann erheben,
wenn sich die neue Richtung auch äußerlich den Sieg, d. h. ihre Gleichberechti¬
gung erstritten hätte. Ob es möglich sein wird, daß eine Kirche unter dem
Banner "Das Evangelium und die Freiheit" ohne formulirte Glaubens¬
artikel, ohne übersinnliche Dogmen besteht, ob die Religion nicht ein ihr
wesentliches Element verliert, wenn die letzten Mythen und Legenden der
Wissenschaft und Kritik zum Opfer gefallen sind, ob nicht die Gegensätze
von Glauben und Wissen, anstatt dauernd versöhnt zu sein, nur in neuen
Formen wiederkehren werden, -- dies Alles find Probleme, die noch ungelöst
sind und die den Hintergrund der religiösen Kämpfe der Gegenwart nicht
blos in Frankreich bilden.


W. Lang.


Die holländische Colomalfrage.

Unsere Colonialpolitik war bis zum Jahre 1848 in einen dichten Schleier
gehüllt, der nur sehr allmälig und langsam gelüftet worden ist. Noch vor fünf¬
zehn Jahren war dieselbe selbst dem gebildeten Holländer eine tsrra ineogmtg..
Liegt es doch in der Natur der Sache, daß man sich über Zustände, die man


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werden, die Polemik, welche hier der „Lien", dort die „Esperance" unter¬
hält, vergleicht man die hervorragenden Leistungen der Kanzelberedtsamkeit in
beiden Lagern, und hält man vollends die wissenschaftlichen Leistungen, dort
eines Guizot, eines Pressense', hier eines Re^ille, Colani, Coquerel gegen ein¬
ander, so wird dran keinen Augenblick im Zweifel sein können, wem schließ,
lich der Sieg gehören wird. Die Orthodoxen scheinen nicht zu ahnen, welche
Consequenzen es für sie selber haben muß, daß sie die Dinge auf diese Spitze
stellten. Die Legitimation zu ihrem intoleranten Vorgehen schöpfen sie einzig
daraus, daß sie bisher die Majorität in Händen haben. Diese Majorität
aber kann sich bei jeder Wahl ändern, und sobald dieser Fall eintritt, sehen
sich die Orthodoxen dem fatalen Dilemma gegenüber, entweder auf ihr Ver¬
langen der Alleinherrschaft zu verzichten, oder aber mit dem Satze, daß sie
mit den Liberalen nichts Gemeinschaftliches mehr haben, Ernst zu machen
und als Seete, als Häresie aus der Kirche zu scheiden. Die Waffe, ,die sie
jetzt gegen die Liberalen brauchen, würde sich gegen sie wenden, gerade wie
einst am Ende der nachapostolischen Zeit die judenchristliche Partei theils der
katholischen Partei sich anschloß und damit auf die Exclusivität ihrer Ortho¬
doxie verzichtete, oder aber, sofern sie auf diesem Standpuncte verharrte,
als Häresie aus der Kirche geschieden wurde oder vielmehr selbst sich von
ihr schied. Die ernsteren Fragen würden sich freilich erst dann erheben,
wenn sich die neue Richtung auch äußerlich den Sieg, d. h. ihre Gleichberechti¬
gung erstritten hätte. Ob es möglich sein wird, daß eine Kirche unter dem
Banner „Das Evangelium und die Freiheit" ohne formulirte Glaubens¬
artikel, ohne übersinnliche Dogmen besteht, ob die Religion nicht ein ihr
wesentliches Element verliert, wenn die letzten Mythen und Legenden der
Wissenschaft und Kritik zum Opfer gefallen sind, ob nicht die Gegensätze
von Glauben und Wissen, anstatt dauernd versöhnt zu sein, nur in neuen
Formen wiederkehren werden, — dies Alles find Probleme, die noch ungelöst
sind und die den Hintergrund der religiösen Kämpfe der Gegenwart nicht
blos in Frankreich bilden.


W. Lang.


Die holländische Colomalfrage.

Unsere Colonialpolitik war bis zum Jahre 1848 in einen dichten Schleier
gehüllt, der nur sehr allmälig und langsam gelüftet worden ist. Noch vor fünf¬
zehn Jahren war dieselbe selbst dem gebildeten Holländer eine tsrra ineogmtg..
Liegt es doch in der Natur der Sache, daß man sich über Zustände, die man


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[0107] werden, die Polemik, welche hier der „Lien", dort die „Esperance" unter¬ hält, vergleicht man die hervorragenden Leistungen der Kanzelberedtsamkeit in beiden Lagern, und hält man vollends die wissenschaftlichen Leistungen, dort eines Guizot, eines Pressense', hier eines Re^ille, Colani, Coquerel gegen ein¬ ander, so wird dran keinen Augenblick im Zweifel sein können, wem schließ, lich der Sieg gehören wird. Die Orthodoxen scheinen nicht zu ahnen, welche Consequenzen es für sie selber haben muß, daß sie die Dinge auf diese Spitze stellten. Die Legitimation zu ihrem intoleranten Vorgehen schöpfen sie einzig daraus, daß sie bisher die Majorität in Händen haben. Diese Majorität aber kann sich bei jeder Wahl ändern, und sobald dieser Fall eintritt, sehen sich die Orthodoxen dem fatalen Dilemma gegenüber, entweder auf ihr Ver¬ langen der Alleinherrschaft zu verzichten, oder aber mit dem Satze, daß sie mit den Liberalen nichts Gemeinschaftliches mehr haben, Ernst zu machen und als Seete, als Häresie aus der Kirche zu scheiden. Die Waffe, ,die sie jetzt gegen die Liberalen brauchen, würde sich gegen sie wenden, gerade wie einst am Ende der nachapostolischen Zeit die judenchristliche Partei theils der katholischen Partei sich anschloß und damit auf die Exclusivität ihrer Ortho¬ doxie verzichtete, oder aber, sofern sie auf diesem Standpuncte verharrte, als Häresie aus der Kirche geschieden wurde oder vielmehr selbst sich von ihr schied. Die ernsteren Fragen würden sich freilich erst dann erheben, wenn sich die neue Richtung auch äußerlich den Sieg, d. h. ihre Gleichberechti¬ gung erstritten hätte. Ob es möglich sein wird, daß eine Kirche unter dem Banner „Das Evangelium und die Freiheit" ohne formulirte Glaubens¬ artikel, ohne übersinnliche Dogmen besteht, ob die Religion nicht ein ihr wesentliches Element verliert, wenn die letzten Mythen und Legenden der Wissenschaft und Kritik zum Opfer gefallen sind, ob nicht die Gegensätze von Glauben und Wissen, anstatt dauernd versöhnt zu sein, nur in neuen Formen wiederkehren werden, — dies Alles find Probleme, die noch ungelöst sind und die den Hintergrund der religiösen Kämpfe der Gegenwart nicht blos in Frankreich bilden. W. Lang. Die holländische Colomalfrage. Unsere Colonialpolitik war bis zum Jahre 1848 in einen dichten Schleier gehüllt, der nur sehr allmälig und langsam gelüftet worden ist. Noch vor fünf¬ zehn Jahren war dieselbe selbst dem gebildeten Holländer eine tsrra ineogmtg.. Liegt es doch in der Natur der Sache, daß man sich über Zustände, die man 13*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/107>, abgerufen am 04.05.2024.