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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band.

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zwei Männern zu, Einem aus Alt- und Einem aus Neupreußen, den Herren
v. Benningsen und v. Forkenbeck.




Aus einem englischen Notizbuch.
2. Sonntag.

- Ein frommer Kaufmannsdiener, der zum "christlichen Jünglingsverein"
(^oung Um'L lüIiriktiÄQ ^ssoeili-lion) gehört, erklärte einmal, daß er selbst
auf einer wüsten Insel wie Robinson Crusoe lebend, ohne Kalender und
Buchführung immer wissen würde, wann es Sonntag ist; er würde den Tag
des Herrn an der Sabbathstille der Natur erkennen. In Gower - Street,
glaube ich, erkennt man den Sonntag noch leichter als auf Robinsons Insel.
Seit die alte Frau vorüberkam,' die Punkt 8 Uhr im feinsten Unkenton
"Frische Wasserkress'" ruft, hat sich in der ganzen langen Straße nur selten
ein gedämpfter Laut vernehmen lassen. Die Hausthür hat Ruhe vor dem
doppelten Hammerschlag des Briefträgers, die Luft vor den Klagetönen des
wandernden Leierkastens. Mehr oder minder tiefe Stille herrscht im übrigen
London und im ganzen vereinigten Königreich. Alle Theater, Concertsäle
und Musikhallen, so wie Astleh's Circus und Cremorne Gartens, das bri¬
tische Museum, das Kensington Museum, die Nationalgallerie, das Poly-
technicum mit der Taucherglocke, Mme. Tussand's Wachsfigurencabinet -- Alles
geschlossen; geschlossen, außer sür ihre Eigenthümer, die Actionäre, sind der
zoologische Garten und der Cristallpallaft. Offen ist von 1 Uhr an der bo¬
tanische Garten in Kew, eine Dampfstunde von London; offen sind die Parks,
offen endlich nach dem ersten und zweiten Gottesdienst die Wirthshäuser, wo-
rinnen von 1. bis 3 und von 5 bis 10 oder 11 andächtig und leise ge¬
trunken wird.

Für die Hunderttausende, die in der Woche wie Maschinen arbeiten, ist
die große Sonntagsruhe allerdings eine Wohlthat. Gelegentlich bemerkt ein
Fremder, daß sie zu weit gehe, daß die Regierung wohl Post und Börse,
Kaufläden und Werkstätten mit Recht schließe, aber den Leuten etwas mehr
Unterhaltung gestatten sollte, denn auch die Langeweile sei eine Arbeit, und
eine sehr ungesunde obendrein. Wenn der Einheimische solche Aeußerungen
hört, sagt er: Der Engländer will keine Unterhaltung; sie ist ihm eine Last.
Oder: Unser Pöbel würde schrecklich ausarten, wenn er sich am Sonntag


Grenzboten til. 18K9. 60

zwei Männern zu, Einem aus Alt- und Einem aus Neupreußen, den Herren
v. Benningsen und v. Forkenbeck.




Aus einem englischen Notizbuch.
2. Sonntag.

- Ein frommer Kaufmannsdiener, der zum „christlichen Jünglingsverein"
(^oung Um'L lüIiriktiÄQ ^ssoeili-lion) gehört, erklärte einmal, daß er selbst
auf einer wüsten Insel wie Robinson Crusoe lebend, ohne Kalender und
Buchführung immer wissen würde, wann es Sonntag ist; er würde den Tag
des Herrn an der Sabbathstille der Natur erkennen. In Gower - Street,
glaube ich, erkennt man den Sonntag noch leichter als auf Robinsons Insel.
Seit die alte Frau vorüberkam,' die Punkt 8 Uhr im feinsten Unkenton
„Frische Wasserkress'" ruft, hat sich in der ganzen langen Straße nur selten
ein gedämpfter Laut vernehmen lassen. Die Hausthür hat Ruhe vor dem
doppelten Hammerschlag des Briefträgers, die Luft vor den Klagetönen des
wandernden Leierkastens. Mehr oder minder tiefe Stille herrscht im übrigen
London und im ganzen vereinigten Königreich. Alle Theater, Concertsäle
und Musikhallen, so wie Astleh's Circus und Cremorne Gartens, das bri¬
tische Museum, das Kensington Museum, die Nationalgallerie, das Poly-
technicum mit der Taucherglocke, Mme. Tussand's Wachsfigurencabinet — Alles
geschlossen; geschlossen, außer sür ihre Eigenthümer, die Actionäre, sind der
zoologische Garten und der Cristallpallaft. Offen ist von 1 Uhr an der bo¬
tanische Garten in Kew, eine Dampfstunde von London; offen sind die Parks,
offen endlich nach dem ersten und zweiten Gottesdienst die Wirthshäuser, wo-
rinnen von 1. bis 3 und von 5 bis 10 oder 11 andächtig und leise ge¬
trunken wird.

Für die Hunderttausende, die in der Woche wie Maschinen arbeiten, ist
die große Sonntagsruhe allerdings eine Wohlthat. Gelegentlich bemerkt ein
Fremder, daß sie zu weit gehe, daß die Regierung wohl Post und Börse,
Kaufläden und Werkstätten mit Recht schließe, aber den Leuten etwas mehr
Unterhaltung gestatten sollte, denn auch die Langeweile sei eine Arbeit, und
eine sehr ungesunde obendrein. Wenn der Einheimische solche Aeußerungen
hört, sagt er: Der Engländer will keine Unterhaltung; sie ist ihm eine Last.
Oder: Unser Pöbel würde schrecklich ausarten, wenn er sich am Sonntag


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[0481] zwei Männern zu, Einem aus Alt- und Einem aus Neupreußen, den Herren v. Benningsen und v. Forkenbeck. Aus einem englischen Notizbuch. 2. Sonntag. - Ein frommer Kaufmannsdiener, der zum „christlichen Jünglingsverein" (^oung Um'L lüIiriktiÄQ ^ssoeili-lion) gehört, erklärte einmal, daß er selbst auf einer wüsten Insel wie Robinson Crusoe lebend, ohne Kalender und Buchführung immer wissen würde, wann es Sonntag ist; er würde den Tag des Herrn an der Sabbathstille der Natur erkennen. In Gower - Street, glaube ich, erkennt man den Sonntag noch leichter als auf Robinsons Insel. Seit die alte Frau vorüberkam,' die Punkt 8 Uhr im feinsten Unkenton „Frische Wasserkress'" ruft, hat sich in der ganzen langen Straße nur selten ein gedämpfter Laut vernehmen lassen. Die Hausthür hat Ruhe vor dem doppelten Hammerschlag des Briefträgers, die Luft vor den Klagetönen des wandernden Leierkastens. Mehr oder minder tiefe Stille herrscht im übrigen London und im ganzen vereinigten Königreich. Alle Theater, Concertsäle und Musikhallen, so wie Astleh's Circus und Cremorne Gartens, das bri¬ tische Museum, das Kensington Museum, die Nationalgallerie, das Poly- technicum mit der Taucherglocke, Mme. Tussand's Wachsfigurencabinet — Alles geschlossen; geschlossen, außer sür ihre Eigenthümer, die Actionäre, sind der zoologische Garten und der Cristallpallaft. Offen ist von 1 Uhr an der bo¬ tanische Garten in Kew, eine Dampfstunde von London; offen sind die Parks, offen endlich nach dem ersten und zweiten Gottesdienst die Wirthshäuser, wo- rinnen von 1. bis 3 und von 5 bis 10 oder 11 andächtig und leise ge¬ trunken wird. Für die Hunderttausende, die in der Woche wie Maschinen arbeiten, ist die große Sonntagsruhe allerdings eine Wohlthat. Gelegentlich bemerkt ein Fremder, daß sie zu weit gehe, daß die Regierung wohl Post und Börse, Kaufläden und Werkstätten mit Recht schließe, aber den Leuten etwas mehr Unterhaltung gestatten sollte, denn auch die Langeweile sei eine Arbeit, und eine sehr ungesunde obendrein. Wenn der Einheimische solche Aeußerungen hört, sagt er: Der Engländer will keine Unterhaltung; sie ist ihm eine Last. Oder: Unser Pöbel würde schrecklich ausarten, wenn er sich am Sonntag Grenzboten til. 18K9. 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121220/481>, abgerufen am 04.05.2024.