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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Aus Deutsch^Vestrcich.

Vor etwa neun Monaten schrieb ich Ihnen, daß wir am Vorabende
einer neuen Verfassungsrevision und zwar noch nicht der letzten stünden.
Seitdem haben sich nach und nach alle unabhängigen Organe der Publi-
cistik der Frage bemächtigt, ob in der bisherigen Weise sortregiert werden
könne oder nicht; fast ausnahmslos sind sie dahin gelangt, diese Frage zu
verneinen, und logischerweise mußten sie in Folge dessen die schleunige Revision
einer Verfassung fordern, welche nun einmal, unbeschadet ihrer vielen guten
Eigenschaften, notorisch nicht lebensfähig ist. Die große Zahl von Blättern,
welche mit Ernst in diese Discussion eingetreten sind, zeigt, was zu glauben
man kaum noch den Muth hatte, daß die Mehrheit auch der Deutschöstreicher
noch ein aufrichtiges Interesse an dem Bestände des Reiches nimmt. Bei
wem dies nicht der Fall, wie würde dem beikommen einen Zustand zu per-
horresciren, welcher ihm größere Garantien politischer und socialer Freiheit
gewährt als irgend ein früherer, der dem deutschen Elemente das Uebergewicht
sichert und -- endlich die Rückzugslinie nach dem neuerstehenden Deutschland
offen läßt. Nehmen wir ferner an, daß von den Reformgegnern wohl eben¬
falls die große Mehrheit im Herzen gut östreichisch ist und sich nur von un¬
klaren Sympathien und von sophistischen Führern irre leiten läßt -- und
ein solches numerisches Verhältniß ist mit Grund anzunehmen -- so haben
wir einen Kern, aus welchem ein echter Patriot und echter Staatsmann
etwas machen könnte. Allein nach den Leistungen östreichischer Regierungs¬
kunst während der letzten zwanzig Jahre muß man mit größerer Sicherheit
darauf rechnen, daß dieser Kern mit List und Gewalt werde zerstückelt und
zerstreut werden. Die treuesten Anhänger und die ältesten Freunde zu ver¬
letzen oder irre zu machen, mit dem Feinde von gestern zu kokettiren und
ihm morgen wieder zu zeigen, daß man ihn nur zum besten gehabt habe: diese
Kunst verstanden alle die Minister, welche seit Schwarzenberg und Stadion
die äußere und innere Politik unseres Staates geleitet haben, und in diesem
Stücke scheinen auch Graf Beust und die Bürgerminister nicht von der Tra¬
dition abweichen zu wollen. Giskra war es, der einst mit gewohnter Em¬
phase in seinem und seiner politischen Freunde Namen erklärte, so gut wie
Schmerling und Rechberg würden auch sie das Staatsruder zu lenken wissen.
Sie haben getreulich Wort gehalten: der Reichsrath der deutsch-slavischen
Länder ist nicht minder eine Fiction, als es damals der "weitere Reichsrath"
war, die Verfassung wird von einem sehr großen Theil der Bevölkerung nicht
anerkannt, in Dalmatien besteht offene Empörung, und das Ministerium
geht an innerer Uneinigkeit und Unentschlossenheit zu Grunde.


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Aus Deutsch^Vestrcich.

Vor etwa neun Monaten schrieb ich Ihnen, daß wir am Vorabende
einer neuen Verfassungsrevision und zwar noch nicht der letzten stünden.
Seitdem haben sich nach und nach alle unabhängigen Organe der Publi-
cistik der Frage bemächtigt, ob in der bisherigen Weise sortregiert werden
könne oder nicht; fast ausnahmslos sind sie dahin gelangt, diese Frage zu
verneinen, und logischerweise mußten sie in Folge dessen die schleunige Revision
einer Verfassung fordern, welche nun einmal, unbeschadet ihrer vielen guten
Eigenschaften, notorisch nicht lebensfähig ist. Die große Zahl von Blättern,
welche mit Ernst in diese Discussion eingetreten sind, zeigt, was zu glauben
man kaum noch den Muth hatte, daß die Mehrheit auch der Deutschöstreicher
noch ein aufrichtiges Interesse an dem Bestände des Reiches nimmt. Bei
wem dies nicht der Fall, wie würde dem beikommen einen Zustand zu per-
horresciren, welcher ihm größere Garantien politischer und socialer Freiheit
gewährt als irgend ein früherer, der dem deutschen Elemente das Uebergewicht
sichert und — endlich die Rückzugslinie nach dem neuerstehenden Deutschland
offen läßt. Nehmen wir ferner an, daß von den Reformgegnern wohl eben¬
falls die große Mehrheit im Herzen gut östreichisch ist und sich nur von un¬
klaren Sympathien und von sophistischen Führern irre leiten läßt — und
ein solches numerisches Verhältniß ist mit Grund anzunehmen — so haben
wir einen Kern, aus welchem ein echter Patriot und echter Staatsmann
etwas machen könnte. Allein nach den Leistungen östreichischer Regierungs¬
kunst während der letzten zwanzig Jahre muß man mit größerer Sicherheit
darauf rechnen, daß dieser Kern mit List und Gewalt werde zerstückelt und
zerstreut werden. Die treuesten Anhänger und die ältesten Freunde zu ver¬
letzen oder irre zu machen, mit dem Feinde von gestern zu kokettiren und
ihm morgen wieder zu zeigen, daß man ihn nur zum besten gehabt habe: diese
Kunst verstanden alle die Minister, welche seit Schwarzenberg und Stadion
die äußere und innere Politik unseres Staates geleitet haben, und in diesem
Stücke scheinen auch Graf Beust und die Bürgerminister nicht von der Tra¬
dition abweichen zu wollen. Giskra war es, der einst mit gewohnter Em¬
phase in seinem und seiner politischen Freunde Namen erklärte, so gut wie
Schmerling und Rechberg würden auch sie das Staatsruder zu lenken wissen.
Sie haben getreulich Wort gehalten: der Reichsrath der deutsch-slavischen
Länder ist nicht minder eine Fiction, als es damals der „weitere Reichsrath"
war, die Verfassung wird von einem sehr großen Theil der Bevölkerung nicht
anerkannt, in Dalmatien besteht offene Empörung, und das Ministerium
geht an innerer Uneinigkeit und Unentschlossenheit zu Grunde.


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[0499] Aus Deutsch^Vestrcich. Vor etwa neun Monaten schrieb ich Ihnen, daß wir am Vorabende einer neuen Verfassungsrevision und zwar noch nicht der letzten stünden. Seitdem haben sich nach und nach alle unabhängigen Organe der Publi- cistik der Frage bemächtigt, ob in der bisherigen Weise sortregiert werden könne oder nicht; fast ausnahmslos sind sie dahin gelangt, diese Frage zu verneinen, und logischerweise mußten sie in Folge dessen die schleunige Revision einer Verfassung fordern, welche nun einmal, unbeschadet ihrer vielen guten Eigenschaften, notorisch nicht lebensfähig ist. Die große Zahl von Blättern, welche mit Ernst in diese Discussion eingetreten sind, zeigt, was zu glauben man kaum noch den Muth hatte, daß die Mehrheit auch der Deutschöstreicher noch ein aufrichtiges Interesse an dem Bestände des Reiches nimmt. Bei wem dies nicht der Fall, wie würde dem beikommen einen Zustand zu per- horresciren, welcher ihm größere Garantien politischer und socialer Freiheit gewährt als irgend ein früherer, der dem deutschen Elemente das Uebergewicht sichert und — endlich die Rückzugslinie nach dem neuerstehenden Deutschland offen läßt. Nehmen wir ferner an, daß von den Reformgegnern wohl eben¬ falls die große Mehrheit im Herzen gut östreichisch ist und sich nur von un¬ klaren Sympathien und von sophistischen Führern irre leiten läßt — und ein solches numerisches Verhältniß ist mit Grund anzunehmen — so haben wir einen Kern, aus welchem ein echter Patriot und echter Staatsmann etwas machen könnte. Allein nach den Leistungen östreichischer Regierungs¬ kunst während der letzten zwanzig Jahre muß man mit größerer Sicherheit darauf rechnen, daß dieser Kern mit List und Gewalt werde zerstückelt und zerstreut werden. Die treuesten Anhänger und die ältesten Freunde zu ver¬ letzen oder irre zu machen, mit dem Feinde von gestern zu kokettiren und ihm morgen wieder zu zeigen, daß man ihn nur zum besten gehabt habe: diese Kunst verstanden alle die Minister, welche seit Schwarzenberg und Stadion die äußere und innere Politik unseres Staates geleitet haben, und in diesem Stücke scheinen auch Graf Beust und die Bürgerminister nicht von der Tra¬ dition abweichen zu wollen. Giskra war es, der einst mit gewohnter Em¬ phase in seinem und seiner politischen Freunde Namen erklärte, so gut wie Schmerling und Rechberg würden auch sie das Staatsruder zu lenken wissen. Sie haben getreulich Wort gehalten: der Reichsrath der deutsch-slavischen Länder ist nicht minder eine Fiction, als es damals der „weitere Reichsrath" war, die Verfassung wird von einem sehr großen Theil der Bevölkerung nicht anerkannt, in Dalmatien besteht offene Empörung, und das Ministerium geht an innerer Uneinigkeit und Unentschlossenheit zu Grunde. 62*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/499>, abgerufen am 27.04.2024.