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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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das er vergebens durch den Appell an die moralische Energie aufzurütteln
versuchte. Seine Pflicht gebot ihm für das Reich zu streiten, und seine Ein¬
sicht sagte ihm doch, daß dem Reich nicht mehr zu helfen sei. So war seine
Thätigkeit eine halbhundertjährige Sisyphusarbeit, und auf ihn selbst paßte
trefflich, was er über seinen Freund Boineburg gedichtet hatte:


Ob sich die Noth im Osten erhebt, im Westen der Kriegslärm,
Nimmer mit trefflichem Wort fehlte der Edle im Rath.
Doch der Cassandra gleich fand keinen Glauben sein Warnen,
Bis die Verblendung zu spät lehrte der rauhe Erfolg.

In dem zweiten Theil seines Buchs behandelt Pfleiderer nicht minder
ausführlich die innerdeutschen Bestrebungen Leibnizens, zunächst in Bezug aus
die Verfassungsfragen, wobei insbesondere der Oaesarmus ^urstöverius ein¬
gehend gewürdigt und gegen Mißverständnisse geschützt wird, dann in Bezug
auf den Inhalt des Staatslebens, auf die verschiedenen Bedürfnisse der mensch¬
lichen Gesellschaft, Rechtswesen. Kirche. Schule, Volkswirthschaft u. dergl.
Dieser Abschnitt entbehrt der Natur der Sache nach der scharfen Würze des
politischen Theils, gewährt aber doch nicht geringeres Interesse. Denn ab¬
gesehen davon, daß uns in der Behandlung so vielfacher Materien erst eine
Vorstellung von der Allseitigkeit dieses Geistes aufgeht, liefert auch das Ge¬
mälde von den inneren Zuständen des Reichs, wie es hier mit den eigenen
Worten Leibnizens entrollt wird, erst den Schlüssel für die sonst unbegreif¬
lichen Jämmerlichkeiten der äußeren Politik. Und dann erfreut hier die Wahr¬
nehmung, wie reich und fruchtbar trotz alledem die Wirksamkeit Leibnizens
gewesen ist. Denn wenn er dort nur als Prediger in der Wüste erscheint
zeigt er sich hier als der Vater der Aufklärung, als Urheber von tausend
fortwirkenden Anregungen, als eine der gewaltigen Säulen unserer Geistes¬
bildung, welche die beste Gewähr für die Wiedergeburt des Vaterlandes
enthielt.


W. L.


Die MinifterKrisis in Wiirtemberg.

Als am Pormittag des 24. März die Kunde von der Vertagung d^r
Kammer und den eingetretenen Ministerveränderungen durch die Straßen der
Hauptstadt lief, war der Eindruck geradezu ein verblüffender. Wie sollte man
sich diese Wendung zurechtlegen? Man wußte, daß eine Ministerveränderung


das er vergebens durch den Appell an die moralische Energie aufzurütteln
versuchte. Seine Pflicht gebot ihm für das Reich zu streiten, und seine Ein¬
sicht sagte ihm doch, daß dem Reich nicht mehr zu helfen sei. So war seine
Thätigkeit eine halbhundertjährige Sisyphusarbeit, und auf ihn selbst paßte
trefflich, was er über seinen Freund Boineburg gedichtet hatte:


Ob sich die Noth im Osten erhebt, im Westen der Kriegslärm,
Nimmer mit trefflichem Wort fehlte der Edle im Rath.
Doch der Cassandra gleich fand keinen Glauben sein Warnen,
Bis die Verblendung zu spät lehrte der rauhe Erfolg.

In dem zweiten Theil seines Buchs behandelt Pfleiderer nicht minder
ausführlich die innerdeutschen Bestrebungen Leibnizens, zunächst in Bezug aus
die Verfassungsfragen, wobei insbesondere der Oaesarmus ^urstöverius ein¬
gehend gewürdigt und gegen Mißverständnisse geschützt wird, dann in Bezug
auf den Inhalt des Staatslebens, auf die verschiedenen Bedürfnisse der mensch¬
lichen Gesellschaft, Rechtswesen. Kirche. Schule, Volkswirthschaft u. dergl.
Dieser Abschnitt entbehrt der Natur der Sache nach der scharfen Würze des
politischen Theils, gewährt aber doch nicht geringeres Interesse. Denn ab¬
gesehen davon, daß uns in der Behandlung so vielfacher Materien erst eine
Vorstellung von der Allseitigkeit dieses Geistes aufgeht, liefert auch das Ge¬
mälde von den inneren Zuständen des Reichs, wie es hier mit den eigenen
Worten Leibnizens entrollt wird, erst den Schlüssel für die sonst unbegreif¬
lichen Jämmerlichkeiten der äußeren Politik. Und dann erfreut hier die Wahr¬
nehmung, wie reich und fruchtbar trotz alledem die Wirksamkeit Leibnizens
gewesen ist. Denn wenn er dort nur als Prediger in der Wüste erscheint
zeigt er sich hier als der Vater der Aufklärung, als Urheber von tausend
fortwirkenden Anregungen, als eine der gewaltigen Säulen unserer Geistes¬
bildung, welche die beste Gewähr für die Wiedergeburt des Vaterlandes
enthielt.


W. L.


Die MinifterKrisis in Wiirtemberg.

Als am Pormittag des 24. März die Kunde von der Vertagung d^r
Kammer und den eingetretenen Ministerveränderungen durch die Straßen der
Hauptstadt lief, war der Eindruck geradezu ein verblüffender. Wie sollte man
sich diese Wendung zurechtlegen? Man wußte, daß eine Ministerveränderung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/28>, abgerufen am 04.05.2024.