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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Regierung sie so rasch beim Wort nahm. Davon waren sie fast noch mehr
betroffen, als von der Ernennung Succow's und dem Rücktritt Golthers.
Die Großdeutschen empfinden es mit Aerger, daß die Wendung zur Nach¬
giebigkeit nicht ihre Führer ans Ruder gebracht und daß die bleibenden Mi¬
nister sich nach einer ganz anderen Seite hin ergänzt haben. Die Volks¬
partei aber ist gänzlich aus dem Concept gebracht. Durch die "vorschnelle
Nachgiebigkeit" der Regierung sieht sie sich ein wirksames Agitationsmittel
aus der Hand gewunden. Sie kann nicht länger mit verdeckten Karten
spielen. Auch sie hatte sich, um eine Mehrheit zum Sturz des Ministeriums
zu Stande zu bringen, jenem bescheideneren Antrag auf "wirthschaftliche und
finanzielle Erleichterungen" angeschlossen. Jetzt, da man unerwarteter Weise
diese Forderung bewilligt, ist sie genöthigt, ihre politischen Motive offen
hervorzukehren und auf ihre Doctrin der radicalen Umgestaltung des Heer¬
wesens zurückzugreifen. Und mit beidem, sowohl mit dem Angriff auf die
Verträge, als mit der Forderung des Milizsystems weiß sie sich in der
Minderheit.

Darauf eben rechnet die Regierung. Nachdem sie die officiell gestellten
Wünsche befriedigt hat. zählt sie auf Spaltung des gegnerischen Lagers über
die weitergehenden Forderungen, welche nicht ausbleiben werden. Und daß
es so kommen werde, darauf bereitet allerdings schon der von Moritz Mohl
ausgearbeitete Commissionsbericht vor, der in seinem Eingang eine entschie¬
dene, an die Adresse des "Beobachters" gerichtete Polemik gegen das Miliz¬
wesen enthält, der weiterhin die Wiedereinführung der Stellvertretung
empfiehlt und der überhaupt am liebsten auf die Leistungen vor 1866 zurück¬
gegangen wissen möchte. So viel ist jetzt schon klar, wenn die große Debatte
über die Militärfrage kommt, wird es sich nicht um eine radicale Aenderung
des Systems, nicht um Beseitigung des neuen Kriegsdienstgesetzes, sondern
um ein Markten an den einzelnen Positionen innerhalb des Gesetzes von 1868
handeln.

Theuer erkauft bleibt aber die Abweisung des Angriffs der Patrioten
auf alle Fälle. Der Fortschritt unserer militärischen Reorganisation wird
zwar nicht rückgängig gemacht, aber gehemmt, die Kluft zwischen den Leistungen
des Südens und denen des Nordens wieder erweitert, die Höhe des Armee¬
bestandes, wo nicht die Tüchtigkeit, vermindert und damit die Gewöhnung
an die allgemeine Waffenpflicht verzögert. Kurz, die Leistungen des Staats
werden geringer, und ob dies das richtige Mittel ist. seine Selbständigkeit
zu sichern, wird ja wohl die Zukunft lehren.




Die Handschriften von Arvorea.

In den letzten Jahrzehnten kam zu Oristano auf der Insel Sardinien eine
größere Anzahl Handschriften und Brieffragmente auf Pergament und Papier zum
Vorschein, deren Inhalt die größte Bedeutung für Geschichte und Alterthümer der
Insel beanspruchte. Die Documente waren ihrem Inhalte nach aus fast jedem


Regierung sie so rasch beim Wort nahm. Davon waren sie fast noch mehr
betroffen, als von der Ernennung Succow's und dem Rücktritt Golthers.
Die Großdeutschen empfinden es mit Aerger, daß die Wendung zur Nach¬
giebigkeit nicht ihre Führer ans Ruder gebracht und daß die bleibenden Mi¬
nister sich nach einer ganz anderen Seite hin ergänzt haben. Die Volks¬
partei aber ist gänzlich aus dem Concept gebracht. Durch die „vorschnelle
Nachgiebigkeit" der Regierung sieht sie sich ein wirksames Agitationsmittel
aus der Hand gewunden. Sie kann nicht länger mit verdeckten Karten
spielen. Auch sie hatte sich, um eine Mehrheit zum Sturz des Ministeriums
zu Stande zu bringen, jenem bescheideneren Antrag auf „wirthschaftliche und
finanzielle Erleichterungen" angeschlossen. Jetzt, da man unerwarteter Weise
diese Forderung bewilligt, ist sie genöthigt, ihre politischen Motive offen
hervorzukehren und auf ihre Doctrin der radicalen Umgestaltung des Heer¬
wesens zurückzugreifen. Und mit beidem, sowohl mit dem Angriff auf die
Verträge, als mit der Forderung des Milizsystems weiß sie sich in der
Minderheit.

Darauf eben rechnet die Regierung. Nachdem sie die officiell gestellten
Wünsche befriedigt hat. zählt sie auf Spaltung des gegnerischen Lagers über
die weitergehenden Forderungen, welche nicht ausbleiben werden. Und daß
es so kommen werde, darauf bereitet allerdings schon der von Moritz Mohl
ausgearbeitete Commissionsbericht vor, der in seinem Eingang eine entschie¬
dene, an die Adresse des „Beobachters" gerichtete Polemik gegen das Miliz¬
wesen enthält, der weiterhin die Wiedereinführung der Stellvertretung
empfiehlt und der überhaupt am liebsten auf die Leistungen vor 1866 zurück¬
gegangen wissen möchte. So viel ist jetzt schon klar, wenn die große Debatte
über die Militärfrage kommt, wird es sich nicht um eine radicale Aenderung
des Systems, nicht um Beseitigung des neuen Kriegsdienstgesetzes, sondern
um ein Markten an den einzelnen Positionen innerhalb des Gesetzes von 1868
handeln.

Theuer erkauft bleibt aber die Abweisung des Angriffs der Patrioten
auf alle Fälle. Der Fortschritt unserer militärischen Reorganisation wird
zwar nicht rückgängig gemacht, aber gehemmt, die Kluft zwischen den Leistungen
des Südens und denen des Nordens wieder erweitert, die Höhe des Armee¬
bestandes, wo nicht die Tüchtigkeit, vermindert und damit die Gewöhnung
an die allgemeine Waffenpflicht verzögert. Kurz, die Leistungen des Staats
werden geringer, und ob dies das richtige Mittel ist. seine Selbständigkeit
zu sichern, wird ja wohl die Zukunft lehren.




Die Handschriften von Arvorea.

In den letzten Jahrzehnten kam zu Oristano auf der Insel Sardinien eine
größere Anzahl Handschriften und Brieffragmente auf Pergament und Papier zum
Vorschein, deren Inhalt die größte Bedeutung für Geschichte und Alterthümer der
Insel beanspruchte. Die Documente waren ihrem Inhalte nach aus fast jedem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/84>, abgerufen am 03.05.2024.