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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Führerschaft im Oberhause. In seiner letzten Stellung als Colonialminister
hat er eine Festigkeit gezeigt, die in den Colonien lebhafte Opposition hervor¬
rief, aber ihm zur Ehre gereicht. Ob er dieselbe Energie in größeren euro¬
päischen Complicationen entwickeln wird, bleibt abzuwarten.

Außer dem Verlust Clarendons hat das Cabinet noch die Einbuße zweier
anderer Mitglieder zu beklagen, die zwar nicht gestorben, aber für die active
Politik nicht mehr zu rechnen sind: Brights, dessen Wiederherstellung zweifel¬
hafter als je ist, und Childers, des Marineministers, der anscheinend un¬
heilbar am Stein leidet. Eine gute Kraft für das Cabinet ist der in das¬
selbe eingetretene Mr. Forster, der Verfasser der Erziehungsbill, aber ob das
Cabinet Gladstone im Stande sein wird, sich auf die Länge zu halten,
bleibt trotz seiner großen Majorität im Unterhause fraglich; sicher ist vor¬
läufig, daß die Landbill Irland so wenig versöhnt hat als die Kirchenbill,
sondern daß beide nur die protestantischen und grundbesitzenden Klassen ab¬
wendig gemacht haben und daß die Ruhe des Augenblicks nur den Zwangs¬
maßregeln zuzuschreiben ist, zu denen sich die Regierung ermächtigen
lassen mußte, obwohl Gladstone die Feindseligkeit der katholischen Priester¬
schaft und der Fenter ohne dieselben entwaffnen zu können glaubte. --

Nachschrift.

-- Dieser Rückblick auf die Laufbahn des englischen Staats¬
mannes war geschlossen, ehe der wüste Kriegslärm im Westen losbrach. Daß
England aus der Neutralität heraustrete, um seinen alten Verbündeten von
Waterloo zu helfen, ist zunächst nicht zu erwarten, aber mindestens wird seine
Neutralität eine für Deutschland sehr wohlwollende sein. Es ist ein nicht
zu verachtender moralischer Rückhalt für uns, daß die gesammte Presse und
öffentliche Meinung Englands wie ganz Europas einig ist in der Entrüstung
über Frankreichs freche Provocation, und laut erklärt, die ganze Verantwort¬
lichkeit für diesen frivol heraufbeschwornen Conflict falle Frankreich zu. Das
Gefühl beginnt in England wie überall sich Bahn zu brechen, daß mit dem
zweiten Kaiserreich für Europa so wenig Ruhe und Frieden zu finden sei
wie mit dem ersten. Dies Gefühl wird vermuthlich bald energischen Aus¬
druck im Parlament finden. Es kommt noch hinzu, daß England speciell sich
ernstlich über Frankreich zu beklagen hat. Nicht nur haben Ollivier und
Grammont wahrheitswidrig behauptet, daß Englands Sympathien auf Seiten
Frankreichs seien, sondern Ollivier und der Kaiser haben dem englischen Bot¬
schafter Lord Lyons versichert, daß mit der Verzichtleistung des Prinzen Leopold
die Verwickelung beendet sei; erst hernach gewann die Kriegspartei beim Kaiser
die Oberhand und jene Forderungen wurden an Benedetti abgesandt, welche
man in Paris selbst als unannehmbar stellte. Die Vermtttelungsversuche
endlich, welche in der elften Stunde von Seiten Englands gemacht wurden.


Führerschaft im Oberhause. In seiner letzten Stellung als Colonialminister
hat er eine Festigkeit gezeigt, die in den Colonien lebhafte Opposition hervor¬
rief, aber ihm zur Ehre gereicht. Ob er dieselbe Energie in größeren euro¬
päischen Complicationen entwickeln wird, bleibt abzuwarten.

Außer dem Verlust Clarendons hat das Cabinet noch die Einbuße zweier
anderer Mitglieder zu beklagen, die zwar nicht gestorben, aber für die active
Politik nicht mehr zu rechnen sind: Brights, dessen Wiederherstellung zweifel¬
hafter als je ist, und Childers, des Marineministers, der anscheinend un¬
heilbar am Stein leidet. Eine gute Kraft für das Cabinet ist der in das¬
selbe eingetretene Mr. Forster, der Verfasser der Erziehungsbill, aber ob das
Cabinet Gladstone im Stande sein wird, sich auf die Länge zu halten,
bleibt trotz seiner großen Majorität im Unterhause fraglich; sicher ist vor¬
läufig, daß die Landbill Irland so wenig versöhnt hat als die Kirchenbill,
sondern daß beide nur die protestantischen und grundbesitzenden Klassen ab¬
wendig gemacht haben und daß die Ruhe des Augenblicks nur den Zwangs¬
maßregeln zuzuschreiben ist, zu denen sich die Regierung ermächtigen
lassen mußte, obwohl Gladstone die Feindseligkeit der katholischen Priester¬
schaft und der Fenter ohne dieselben entwaffnen zu können glaubte. —

Nachschrift.

— Dieser Rückblick auf die Laufbahn des englischen Staats¬
mannes war geschlossen, ehe der wüste Kriegslärm im Westen losbrach. Daß
England aus der Neutralität heraustrete, um seinen alten Verbündeten von
Waterloo zu helfen, ist zunächst nicht zu erwarten, aber mindestens wird seine
Neutralität eine für Deutschland sehr wohlwollende sein. Es ist ein nicht
zu verachtender moralischer Rückhalt für uns, daß die gesammte Presse und
öffentliche Meinung Englands wie ganz Europas einig ist in der Entrüstung
über Frankreichs freche Provocation, und laut erklärt, die ganze Verantwort¬
lichkeit für diesen frivol heraufbeschwornen Conflict falle Frankreich zu. Das
Gefühl beginnt in England wie überall sich Bahn zu brechen, daß mit dem
zweiten Kaiserreich für Europa so wenig Ruhe und Frieden zu finden sei
wie mit dem ersten. Dies Gefühl wird vermuthlich bald energischen Aus¬
druck im Parlament finden. Es kommt noch hinzu, daß England speciell sich
ernstlich über Frankreich zu beklagen hat. Nicht nur haben Ollivier und
Grammont wahrheitswidrig behauptet, daß Englands Sympathien auf Seiten
Frankreichs seien, sondern Ollivier und der Kaiser haben dem englischen Bot¬
schafter Lord Lyons versichert, daß mit der Verzichtleistung des Prinzen Leopold
die Verwickelung beendet sei; erst hernach gewann die Kriegspartei beim Kaiser
die Oberhand und jene Forderungen wurden an Benedetti abgesandt, welche
man in Paris selbst als unannehmbar stellte. Die Vermtttelungsversuche
endlich, welche in der elften Stunde von Seiten Englands gemacht wurden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/154>, abgerufen am 06.05.2024.